Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

thun, der das Staatsleben geradezu auf den Kops stellt. Jede Beschleunigung
der gesetzgebenden Thätigkeit durch Jnsurrection ist ein Herausgehe" aus den
Schranken des politischen Organismus, und zieht eine ebenso entschiedene Reaction
nach sich. Der eigentliche Fortschritt wird niemals durch den Aufstand gefördert.

Ein zweiter, uoch viel schlimmerer Irrthum, in den vorzüglich Mignet, aber
auch Thiers verfällt, ist der Optimismus, mit welchem man alle einzelne
Unthaten der Revolution beschönigt, sie als unvermeidliche Folge der gegebenen
Verhältnisse, als ein Verhängniß betrachtet, welchem die einzelnen Menschen
nicht hätten widerstehen können. Es ist das eine gute Ausflucht der Feigheit
und Charakterlosigkeit, die menschliche Zurechnungsfähigkeit den "Umständen" auf¬
zubürden. Es muß vielmehr die große Wahrheit immer ernster gepredigt werden:
daß Verbrechen Verbrechen bleibt, in der Revolution so gut wie im Frieden, und
daß in einer gefährlichen Zeit Jeder ein Verbrechen begeht, der das Böse, welches
er hindern kann, geschehen läßt. Die Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit der
"Wohlgesinnten" in der Zeit der Verwirrung ist das Verhängniß, dessen Schuld
man umsonst einem eitlen Spuk aufzubürden sucht.

Endlich -- und das hängt genan mit dem Vorigen zusammen, ist der Wahn:
daß es dem Recht gegeuüber kein entgegenstehendes Recht geben könne, ein
Wahn, der auf den alten jesuitischen Grundsatz: der Zweck heiligt die Mittel,
herauskommt, durch die leichtsinnige Frivolität jener blos epischen Darstellung zu
wenig bekämpft, und dadurch befördert worden.

Nach der Julirevolution, welche die Bourgeoisie in den Besitz der Staatsge¬
walt gesetzt hatte, wurde die demokratische Betrachtung der Revolution Mode.
Die zurückstehender Classen des Volks drängten mit finsterer Gewalt gegen die
Bevorzugung des xc^s -- Die compendiöse "parlamentarische Geschichte"
von Buchez und Roux -- eine Mischung Se. Simonistischer, römisch-republi¬
kanischer und mystisch-katholischer Grundsätze, war das Evangelium dieser neuen
Gesinnung. Eine leidenschaftliche Anklage gegen das Bürgerthum, die Idee der
Menschenrechte zu egoistischen Zwecken ausgebeutet zu haben. -- Noch viel ein¬
flußreicher war die "Geschichte der zehn Jahre" von Louis Blanc. Keine
Feder erhob sich damals, um die Sophismen des geistreichen Revolutionärs, die
von der Aristokratie und der Legitimität entschieden begünstigt wurden, zu wider¬
legen. -- Es folgte L amartine mit seiner "Geschichte der Girondisten"; ein
ultraromtanisches Buch nach Art des Bury Jargal und der Marion de Lorme;
eine Durchführung des romantischen Grundsatzes, die menschlichen und poetischen
Seiten der moralischen und physischen Ungeheuer durch Concentration eines
blendenden Lichtes und dnrch Anwendung von Vergrößerungsgläsern scharf her¬
vorzuheben. -- Cad et, der Ikarier, schrieb seine Geschichte für die Einge¬
weihten; die französische Revolution war ihm ein schwacher Versuch, den einzigen
Rechtszustand der Menschheit, den Communismus, durchzuführen; sie bedürfte der


thun, der das Staatsleben geradezu auf den Kops stellt. Jede Beschleunigung
der gesetzgebenden Thätigkeit durch Jnsurrection ist ein Herausgehe» aus den
Schranken des politischen Organismus, und zieht eine ebenso entschiedene Reaction
nach sich. Der eigentliche Fortschritt wird niemals durch den Aufstand gefördert.

Ein zweiter, uoch viel schlimmerer Irrthum, in den vorzüglich Mignet, aber
auch Thiers verfällt, ist der Optimismus, mit welchem man alle einzelne
Unthaten der Revolution beschönigt, sie als unvermeidliche Folge der gegebenen
Verhältnisse, als ein Verhängniß betrachtet, welchem die einzelnen Menschen
nicht hätten widerstehen können. Es ist das eine gute Ausflucht der Feigheit
und Charakterlosigkeit, die menschliche Zurechnungsfähigkeit den „Umständen" auf¬
zubürden. Es muß vielmehr die große Wahrheit immer ernster gepredigt werden:
daß Verbrechen Verbrechen bleibt, in der Revolution so gut wie im Frieden, und
daß in einer gefährlichen Zeit Jeder ein Verbrechen begeht, der das Böse, welches
er hindern kann, geschehen läßt. Die Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit der
„Wohlgesinnten" in der Zeit der Verwirrung ist das Verhängniß, dessen Schuld
man umsonst einem eitlen Spuk aufzubürden sucht.

Endlich — und das hängt genan mit dem Vorigen zusammen, ist der Wahn:
daß es dem Recht gegeuüber kein entgegenstehendes Recht geben könne, ein
Wahn, der auf den alten jesuitischen Grundsatz: der Zweck heiligt die Mittel,
herauskommt, durch die leichtsinnige Frivolität jener blos epischen Darstellung zu
wenig bekämpft, und dadurch befördert worden.

Nach der Julirevolution, welche die Bourgeoisie in den Besitz der Staatsge¬
walt gesetzt hatte, wurde die demokratische Betrachtung der Revolution Mode.
Die zurückstehender Classen des Volks drängten mit finsterer Gewalt gegen die
Bevorzugung des xc^s — Die compendiöse „parlamentarische Geschichte"
von Buchez und Roux — eine Mischung Se. Simonistischer, römisch-republi¬
kanischer und mystisch-katholischer Grundsätze, war das Evangelium dieser neuen
Gesinnung. Eine leidenschaftliche Anklage gegen das Bürgerthum, die Idee der
Menschenrechte zu egoistischen Zwecken ausgebeutet zu haben. — Noch viel ein¬
flußreicher war die „Geschichte der zehn Jahre" von Louis Blanc. Keine
Feder erhob sich damals, um die Sophismen des geistreichen Revolutionärs, die
von der Aristokratie und der Legitimität entschieden begünstigt wurden, zu wider¬
legen. — Es folgte L amartine mit seiner „Geschichte der Girondisten"; ein
ultraromtanisches Buch nach Art des Bury Jargal und der Marion de Lorme;
eine Durchführung des romantischen Grundsatzes, die menschlichen und poetischen
Seiten der moralischen und physischen Ungeheuer durch Concentration eines
blendenden Lichtes und dnrch Anwendung von Vergrößerungsgläsern scharf her¬
vorzuheben. — Cad et, der Ikarier, schrieb seine Geschichte für die Einge¬
weihten; die französische Revolution war ihm ein schwacher Versuch, den einzigen
Rechtszustand der Menschheit, den Communismus, durchzuführen; sie bedürfte der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0121" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91859"/>
          <p xml:id="ID_311" prev="#ID_310"> thun, der das Staatsleben geradezu auf den Kops stellt. Jede Beschleunigung<lb/>
der gesetzgebenden Thätigkeit durch Jnsurrection ist ein Herausgehe» aus den<lb/>
Schranken des politischen Organismus, und zieht eine ebenso entschiedene Reaction<lb/>
nach sich.  Der eigentliche Fortschritt wird niemals durch den Aufstand gefördert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_312"> Ein zweiter, uoch viel schlimmerer Irrthum, in den vorzüglich Mignet, aber<lb/>
auch Thiers verfällt, ist der Optimismus, mit welchem man alle einzelne<lb/>
Unthaten der Revolution beschönigt, sie als unvermeidliche Folge der gegebenen<lb/>
Verhältnisse, als ein Verhängniß betrachtet, welchem die einzelnen Menschen<lb/>
nicht hätten widerstehen können. Es ist das eine gute Ausflucht der Feigheit<lb/>
und Charakterlosigkeit, die menschliche Zurechnungsfähigkeit den &#x201E;Umständen" auf¬<lb/>
zubürden. Es muß vielmehr die große Wahrheit immer ernster gepredigt werden:<lb/>
daß Verbrechen Verbrechen bleibt, in der Revolution so gut wie im Frieden, und<lb/>
daß in einer gefährlichen Zeit Jeder ein Verbrechen begeht, der das Böse, welches<lb/>
er hindern kann, geschehen läßt. Die Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit der<lb/>
&#x201E;Wohlgesinnten" in der Zeit der Verwirrung ist das Verhängniß, dessen Schuld<lb/>
man umsonst einem eitlen Spuk aufzubürden sucht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_313"> Endlich &#x2014; und das hängt genan mit dem Vorigen zusammen, ist der Wahn:<lb/>
daß es dem Recht gegeuüber kein entgegenstehendes Recht geben könne, ein<lb/>
Wahn, der auf den alten jesuitischen Grundsatz: der Zweck heiligt die Mittel,<lb/>
herauskommt, durch die leichtsinnige Frivolität jener blos epischen Darstellung zu<lb/>
wenig bekämpft, und dadurch befördert worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_314" next="#ID_315"> Nach der Julirevolution, welche die Bourgeoisie in den Besitz der Staatsge¬<lb/>
walt gesetzt hatte, wurde die demokratische Betrachtung der Revolution Mode.<lb/>
Die zurückstehender Classen des Volks drängten mit finsterer Gewalt gegen die<lb/>
Bevorzugung des xc^s &#x2014; Die compendiöse &#x201E;parlamentarische Geschichte"<lb/>
von Buchez und Roux &#x2014; eine Mischung Se. Simonistischer, römisch-republi¬<lb/>
kanischer und mystisch-katholischer Grundsätze, war das Evangelium dieser neuen<lb/>
Gesinnung. Eine leidenschaftliche Anklage gegen das Bürgerthum, die Idee der<lb/>
Menschenrechte zu egoistischen Zwecken ausgebeutet zu haben. &#x2014; Noch viel ein¬<lb/>
flußreicher war die &#x201E;Geschichte der zehn Jahre" von Louis Blanc. Keine<lb/>
Feder erhob sich damals, um die Sophismen des geistreichen Revolutionärs, die<lb/>
von der Aristokratie und der Legitimität entschieden begünstigt wurden, zu wider¬<lb/>
legen. &#x2014; Es folgte L amartine mit seiner &#x201E;Geschichte der Girondisten"; ein<lb/>
ultraromtanisches Buch nach Art des Bury Jargal und der Marion de Lorme;<lb/>
eine Durchführung des romantischen Grundsatzes, die menschlichen und poetischen<lb/>
Seiten der moralischen und physischen Ungeheuer durch Concentration eines<lb/>
blendenden Lichtes und dnrch Anwendung von Vergrößerungsgläsern scharf her¬<lb/>
vorzuheben. &#x2014; Cad et, der Ikarier, schrieb seine Geschichte für die Einge¬<lb/>
weihten; die französische Revolution war ihm ein schwacher Versuch, den einzigen<lb/>
Rechtszustand der Menschheit, den Communismus, durchzuführen; sie bedürfte der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0121] thun, der das Staatsleben geradezu auf den Kops stellt. Jede Beschleunigung der gesetzgebenden Thätigkeit durch Jnsurrection ist ein Herausgehe» aus den Schranken des politischen Organismus, und zieht eine ebenso entschiedene Reaction nach sich. Der eigentliche Fortschritt wird niemals durch den Aufstand gefördert. Ein zweiter, uoch viel schlimmerer Irrthum, in den vorzüglich Mignet, aber auch Thiers verfällt, ist der Optimismus, mit welchem man alle einzelne Unthaten der Revolution beschönigt, sie als unvermeidliche Folge der gegebenen Verhältnisse, als ein Verhängniß betrachtet, welchem die einzelnen Menschen nicht hätten widerstehen können. Es ist das eine gute Ausflucht der Feigheit und Charakterlosigkeit, die menschliche Zurechnungsfähigkeit den „Umständen" auf¬ zubürden. Es muß vielmehr die große Wahrheit immer ernster gepredigt werden: daß Verbrechen Verbrechen bleibt, in der Revolution so gut wie im Frieden, und daß in einer gefährlichen Zeit Jeder ein Verbrechen begeht, der das Böse, welches er hindern kann, geschehen läßt. Die Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit der „Wohlgesinnten" in der Zeit der Verwirrung ist das Verhängniß, dessen Schuld man umsonst einem eitlen Spuk aufzubürden sucht. Endlich — und das hängt genan mit dem Vorigen zusammen, ist der Wahn: daß es dem Recht gegeuüber kein entgegenstehendes Recht geben könne, ein Wahn, der auf den alten jesuitischen Grundsatz: der Zweck heiligt die Mittel, herauskommt, durch die leichtsinnige Frivolität jener blos epischen Darstellung zu wenig bekämpft, und dadurch befördert worden. Nach der Julirevolution, welche die Bourgeoisie in den Besitz der Staatsge¬ walt gesetzt hatte, wurde die demokratische Betrachtung der Revolution Mode. Die zurückstehender Classen des Volks drängten mit finsterer Gewalt gegen die Bevorzugung des xc^s — Die compendiöse „parlamentarische Geschichte" von Buchez und Roux — eine Mischung Se. Simonistischer, römisch-republi¬ kanischer und mystisch-katholischer Grundsätze, war das Evangelium dieser neuen Gesinnung. Eine leidenschaftliche Anklage gegen das Bürgerthum, die Idee der Menschenrechte zu egoistischen Zwecken ausgebeutet zu haben. — Noch viel ein¬ flußreicher war die „Geschichte der zehn Jahre" von Louis Blanc. Keine Feder erhob sich damals, um die Sophismen des geistreichen Revolutionärs, die von der Aristokratie und der Legitimität entschieden begünstigt wurden, zu wider¬ legen. — Es folgte L amartine mit seiner „Geschichte der Girondisten"; ein ultraromtanisches Buch nach Art des Bury Jargal und der Marion de Lorme; eine Durchführung des romantischen Grundsatzes, die menschlichen und poetischen Seiten der moralischen und physischen Ungeheuer durch Concentration eines blendenden Lichtes und dnrch Anwendung von Vergrößerungsgläsern scharf her¬ vorzuheben. — Cad et, der Ikarier, schrieb seine Geschichte für die Einge¬ weihten; die französische Revolution war ihm ein schwacher Versuch, den einzigen Rechtszustand der Menschheit, den Communismus, durchzuführen; sie bedürfte der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/121
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/121>, abgerufen am 15.06.2024.