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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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das sowol uns mehr den Eindruck eines mächtigen Hofes geben, als den Kon¬
trast in der Erscheinung der Zauberer erhöhen. --

W. Streckfuß. Anna vou Oestreich. Die Wittwe Ludwig Xlil. führte
für ihren minderjährigen Sohn Ludwig XIV. die Regierung, ließ sich aber durch
ihren Günstling, den Cardinal Mazarin, beherrschen. Am Abend des K. Februar
hatte Mazarin ans Furcht vor der Rache des über seine Herrschsucht aufgeregten
Volkes Paris heimlich verlassen. Zwei Tage später wollte die Königin mit ihrem
Sohne dem Günstling folgen. Das Voll' erfuhr die beabsichtigte Reise und
suchte, wüthend darüber, das Palais Royal zu stürmen. Da nahm Anna von
Oestreich zu einem kühnen Entschlüsse ihre Zuflucht. Der schon zur Abreise ge¬
rüstete König mußte sich schnell entkleiden, in's Bett legen und schlafend stellen.
Anna ließ die Schloßpforten öffnen und führte selbst das Volk nach dem Schlaf-
gemach ihres Sohnes, dessen Anblick auf die Menge fast zauberhaft wirkte; denn
auch die wüthendsten Rebellen fielen ehrfurchtsvoll ans die Kniee.

Der Gegenstand ist also ein Betrug, der geschichtlich durch die Umstände
gerechtfertigt war, und sogar eine gewisse Achen^g vor der Geistesgegenwart und
Entschlossenheit der Königin einflößen kann; diesen aber zum Gegenstand eines
Bildes zu macheu, bewies wenig Takt; eine Mutter und ein Kind, die durch ver¬
abredete Verstellung einem leichtgläubigen Pöbel imponiren. Und gerade das
Kind ist es, welches die List ausführt, und wodurch? dadurch, daß es das, was,
diesem Alter den Reiz der Unschuld verleiht, wenn es wahr ist, erheuchelt; wir
sehen das Volk dem schlafenden Knaben in anbetender Verehrung gegenüber,
und wir wissen, "es ist Alles Verstellung!" Sollen wir uns freuen, daß die
Königin nud der junge König durch ihre List gerettet worden, und sie wegen
ihrer geistigen Ueberlegenheit bewundern? Dann müssen wir zugleich das um¬
stehende Volk auslachen und verachten. Das widersteht aberj unsrem Gefühl.
Es zeigt zu viel Gutmüthigkeit nud Pietät, und ist dazu noch hintergangen.
Unser Gefühl wird nach allen Seiten gezerrt, ohne befriedigt zu werden, und
wir bleiben kalt. Eben so wenig Takt, als die Wahl des Gegenstandes beweist,
zeigt auch die Auffassung desselben, wenn wir uns das Sujet einmal gefallen
lassen wollen. Es sind fast alle Figuren vou großer Lebendigkeit, aber es fehlt
alle Feinheit und Nuancirung des Ausdrucks. Am gelungensten ist der junge
König, aber Anna von Oestreich hat zu viel von imponirenden Stolz in Hal¬
tung und Antlitz, zu wenig den Ausdruck eines kühnen Geistes, der seine Ueber¬
legenheit in gefahrvollem Moment geltend macht, und mit einem Gemisch von
Spannung und Sicherheit, von Verstellung und Offenheit seinen Plan ausführt.
Das heranbringende Volk ist bereits in voller Anbetung und Entzückung über den
Anblick des jungen Königs. Es fehlen bei großer Lebendigkeit alle feinere
Nuancen und Uebergänge der Empfindung und deö Ausdrucks; Nichts von plötz¬
lichem unschlüssigem Innehalten im gierigen Andrängen, von erwachender Neue,


das sowol uns mehr den Eindruck eines mächtigen Hofes geben, als den Kon¬
trast in der Erscheinung der Zauberer erhöhen. —

W. Streckfuß. Anna vou Oestreich. Die Wittwe Ludwig Xlil. führte
für ihren minderjährigen Sohn Ludwig XIV. die Regierung, ließ sich aber durch
ihren Günstling, den Cardinal Mazarin, beherrschen. Am Abend des K. Februar
hatte Mazarin ans Furcht vor der Rache des über seine Herrschsucht aufgeregten
Volkes Paris heimlich verlassen. Zwei Tage später wollte die Königin mit ihrem
Sohne dem Günstling folgen. Das Voll' erfuhr die beabsichtigte Reise und
suchte, wüthend darüber, das Palais Royal zu stürmen. Da nahm Anna von
Oestreich zu einem kühnen Entschlüsse ihre Zuflucht. Der schon zur Abreise ge¬
rüstete König mußte sich schnell entkleiden, in's Bett legen und schlafend stellen.
Anna ließ die Schloßpforten öffnen und führte selbst das Volk nach dem Schlaf-
gemach ihres Sohnes, dessen Anblick auf die Menge fast zauberhaft wirkte; denn
auch die wüthendsten Rebellen fielen ehrfurchtsvoll ans die Kniee.

Der Gegenstand ist also ein Betrug, der geschichtlich durch die Umstände
gerechtfertigt war, und sogar eine gewisse Achen^g vor der Geistesgegenwart und
Entschlossenheit der Königin einflößen kann; diesen aber zum Gegenstand eines
Bildes zu macheu, bewies wenig Takt; eine Mutter und ein Kind, die durch ver¬
abredete Verstellung einem leichtgläubigen Pöbel imponiren. Und gerade das
Kind ist es, welches die List ausführt, und wodurch? dadurch, daß es das, was,
diesem Alter den Reiz der Unschuld verleiht, wenn es wahr ist, erheuchelt; wir
sehen das Volk dem schlafenden Knaben in anbetender Verehrung gegenüber,
und wir wissen, „es ist Alles Verstellung!" Sollen wir uns freuen, daß die
Königin nud der junge König durch ihre List gerettet worden, und sie wegen
ihrer geistigen Ueberlegenheit bewundern? Dann müssen wir zugleich das um¬
stehende Volk auslachen und verachten. Das widersteht aberj unsrem Gefühl.
Es zeigt zu viel Gutmüthigkeit nud Pietät, und ist dazu noch hintergangen.
Unser Gefühl wird nach allen Seiten gezerrt, ohne befriedigt zu werden, und
wir bleiben kalt. Eben so wenig Takt, als die Wahl des Gegenstandes beweist,
zeigt auch die Auffassung desselben, wenn wir uns das Sujet einmal gefallen
lassen wollen. Es sind fast alle Figuren vou großer Lebendigkeit, aber es fehlt
alle Feinheit und Nuancirung des Ausdrucks. Am gelungensten ist der junge
König, aber Anna von Oestreich hat zu viel von imponirenden Stolz in Hal¬
tung und Antlitz, zu wenig den Ausdruck eines kühnen Geistes, der seine Ueber¬
legenheit in gefahrvollem Moment geltend macht, und mit einem Gemisch von
Spannung und Sicherheit, von Verstellung und Offenheit seinen Plan ausführt.
Das heranbringende Volk ist bereits in voller Anbetung und Entzückung über den
Anblick des jungen Königs. Es fehlen bei großer Lebendigkeit alle feinere
Nuancen und Uebergänge der Empfindung und deö Ausdrucks; Nichts von plötz¬
lichem unschlüssigem Innehalten im gierigen Andrängen, von erwachender Neue,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/182>, abgerufen am 16.06.2024.