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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Scham und Zerknirschung über die wilde Absicht. Es würde dies zugleich die
Situativ" klarer machen, während wir ans dem Bilde, wie wir es hier sehen, nicht
ahnen können, was vorher geschehen. Und das war, wenn auch nicht deutlich
auszusprechen möglich, doch nöthig, ungefähr anzudeuten.

Endlich fehlt, obgleich das ganze Bild eine gewisse anerkennenswerthe Sicher¬
heit in Zeichnung und Malerei zeigt, auch hierin, namentlich in letzterer, die
Feinheit. Es ist jene Sicherheit, die nicht glaubt, daß sie fehlen kann, und daher
leicht an'S Rohe streift.

L. Gallait. Slavische Musikanten. Ein Knabe ans der Grenze deö Jüng¬
lingsalters, ein noch unerwachsenes Mädchen haben auf ihrer Wanderung in den
Steintrümmern eines längst verfallenen Gebäudes Halt gemacht. Das Mädchen,
von Müdigkeit und Schmerz erschöpft, ist ans den Boden gesunken, Kopf und
Schulter an das Knie des Knaben gelehnt; vom höchsten Ausdruck in Geberde
und Stellung, noch die letzten Thränen auf der Wange, noch das letzte Ausmalen
des Schmerzes, und schon will der Mund sich zu beruhigten Lächeln gestalten,
schon sind die Hände, von denen die eine durch ihren Druck die schmerzende
Wunde des Fußes betäuben wollte, und nnn von der kranken Stelle gewichen
ist, im Schlummer gelöst. Denn Schlaf hat angefangen, den Schmerz des armen
Kindes zu bewältigen; eS gelang ihrem Beschützer, ihn durch die Töne seiner
Geige herbeizurufen, die er nun in melancholischer Zufriedenheit verklingen läßt.
Er hat seine zarte Begleiterin für den Moment beruhigt, aber was wird weiter
aus ihr und ihm werden? Dieser Ausdruck der augenblickliche" Befriedigung ist
unendlich fein mit dem einer allgemeinen düstern Stimmung in dem Gesichte
des Knaben vereinigt, das läßt sich nicht beschreiben, desgleichen vermag nur die
bildende Kunst in einem Moment zu fixiren; gegen den tiefen, ergreifenden Ausdruck,
der in diesen-beiden Kindern liegt, würde die beste poetische Beschreibung matt
erscheinen. Dabei ist das Colorit von der größten Energie und Wahrheit, die
Stimmung tief, ernst und in der Umgebung, die hierin vortrefflich mitspricht und
ergänzt, was in den Figuren angedeutet ist, düster und ungewiß.

So wäre das Bild vollkommen, wenn der Schönheit überall in demselben
Maße wie dem Ausdrucke genügt wäre; doch hierin fehlt uns Manches, die Lage
des Mädchens könnte eben so ausdrucksvoll sein und dabei doch angenehmere Linien
bieten; namentlich thut die parallele Lage der Arme dem Ange nicht wohl; dann
könnte anch ihr Körper, den der Künstler mit richtiger Absicht ohne Hülle, ja
mager bildete, edlere und graciösere Formen zeigen; derLopf des Knaben ist zu
groß und schwer gegen den Körper, was namentlich den untern Theil des Ge¬
sichtes stört. Der Künstler verfuhr hier überall rein naturalistisch; aber eine
rein naturalistische Behandlung war diesem Gegenstande, der entschieden Schön¬
heit zuließ und forderte, nicht angemessen. Ja, wenn wir alle unsre Wünsche
aussprechen und die Kritik mehr in's Detail treiben sollen, so möchten wir auch


Scham und Zerknirschung über die wilde Absicht. Es würde dies zugleich die
Situativ» klarer machen, während wir ans dem Bilde, wie wir es hier sehen, nicht
ahnen können, was vorher geschehen. Und das war, wenn auch nicht deutlich
auszusprechen möglich, doch nöthig, ungefähr anzudeuten.

Endlich fehlt, obgleich das ganze Bild eine gewisse anerkennenswerthe Sicher¬
heit in Zeichnung und Malerei zeigt, auch hierin, namentlich in letzterer, die
Feinheit. Es ist jene Sicherheit, die nicht glaubt, daß sie fehlen kann, und daher
leicht an'S Rohe streift.

L. Gallait. Slavische Musikanten. Ein Knabe ans der Grenze deö Jüng¬
lingsalters, ein noch unerwachsenes Mädchen haben auf ihrer Wanderung in den
Steintrümmern eines längst verfallenen Gebäudes Halt gemacht. Das Mädchen,
von Müdigkeit und Schmerz erschöpft, ist ans den Boden gesunken, Kopf und
Schulter an das Knie des Knaben gelehnt; vom höchsten Ausdruck in Geberde
und Stellung, noch die letzten Thränen auf der Wange, noch das letzte Ausmalen
des Schmerzes, und schon will der Mund sich zu beruhigten Lächeln gestalten,
schon sind die Hände, von denen die eine durch ihren Druck die schmerzende
Wunde des Fußes betäuben wollte, und nnn von der kranken Stelle gewichen
ist, im Schlummer gelöst. Denn Schlaf hat angefangen, den Schmerz des armen
Kindes zu bewältigen; eS gelang ihrem Beschützer, ihn durch die Töne seiner
Geige herbeizurufen, die er nun in melancholischer Zufriedenheit verklingen läßt.
Er hat seine zarte Begleiterin für den Moment beruhigt, aber was wird weiter
aus ihr und ihm werden? Dieser Ausdruck der augenblickliche» Befriedigung ist
unendlich fein mit dem einer allgemeinen düstern Stimmung in dem Gesichte
des Knaben vereinigt, das läßt sich nicht beschreiben, desgleichen vermag nur die
bildende Kunst in einem Moment zu fixiren; gegen den tiefen, ergreifenden Ausdruck,
der in diesen-beiden Kindern liegt, würde die beste poetische Beschreibung matt
erscheinen. Dabei ist das Colorit von der größten Energie und Wahrheit, die
Stimmung tief, ernst und in der Umgebung, die hierin vortrefflich mitspricht und
ergänzt, was in den Figuren angedeutet ist, düster und ungewiß.

So wäre das Bild vollkommen, wenn der Schönheit überall in demselben
Maße wie dem Ausdrucke genügt wäre; doch hierin fehlt uns Manches, die Lage
des Mädchens könnte eben so ausdrucksvoll sein und dabei doch angenehmere Linien
bieten; namentlich thut die parallele Lage der Arme dem Ange nicht wohl; dann
könnte anch ihr Körper, den der Künstler mit richtiger Absicht ohne Hülle, ja
mager bildete, edlere und graciösere Formen zeigen; derLopf des Knaben ist zu
groß und schwer gegen den Körper, was namentlich den untern Theil des Ge¬
sichtes stört. Der Künstler verfuhr hier überall rein naturalistisch; aber eine
rein naturalistische Behandlung war diesem Gegenstande, der entschieden Schön¬
heit zuließ und forderte, nicht angemessen. Ja, wenn wir alle unsre Wünsche
aussprechen und die Kritik mehr in's Detail treiben sollen, so möchten wir auch


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[0183] Scham und Zerknirschung über die wilde Absicht. Es würde dies zugleich die Situativ» klarer machen, während wir ans dem Bilde, wie wir es hier sehen, nicht ahnen können, was vorher geschehen. Und das war, wenn auch nicht deutlich auszusprechen möglich, doch nöthig, ungefähr anzudeuten. Endlich fehlt, obgleich das ganze Bild eine gewisse anerkennenswerthe Sicher¬ heit in Zeichnung und Malerei zeigt, auch hierin, namentlich in letzterer, die Feinheit. Es ist jene Sicherheit, die nicht glaubt, daß sie fehlen kann, und daher leicht an'S Rohe streift. L. Gallait. Slavische Musikanten. Ein Knabe ans der Grenze deö Jüng¬ lingsalters, ein noch unerwachsenes Mädchen haben auf ihrer Wanderung in den Steintrümmern eines längst verfallenen Gebäudes Halt gemacht. Das Mädchen, von Müdigkeit und Schmerz erschöpft, ist ans den Boden gesunken, Kopf und Schulter an das Knie des Knaben gelehnt; vom höchsten Ausdruck in Geberde und Stellung, noch die letzten Thränen auf der Wange, noch das letzte Ausmalen des Schmerzes, und schon will der Mund sich zu beruhigten Lächeln gestalten, schon sind die Hände, von denen die eine durch ihren Druck die schmerzende Wunde des Fußes betäuben wollte, und nnn von der kranken Stelle gewichen ist, im Schlummer gelöst. Denn Schlaf hat angefangen, den Schmerz des armen Kindes zu bewältigen; eS gelang ihrem Beschützer, ihn durch die Töne seiner Geige herbeizurufen, die er nun in melancholischer Zufriedenheit verklingen läßt. Er hat seine zarte Begleiterin für den Moment beruhigt, aber was wird weiter aus ihr und ihm werden? Dieser Ausdruck der augenblickliche» Befriedigung ist unendlich fein mit dem einer allgemeinen düstern Stimmung in dem Gesichte des Knaben vereinigt, das läßt sich nicht beschreiben, desgleichen vermag nur die bildende Kunst in einem Moment zu fixiren; gegen den tiefen, ergreifenden Ausdruck, der in diesen-beiden Kindern liegt, würde die beste poetische Beschreibung matt erscheinen. Dabei ist das Colorit von der größten Energie und Wahrheit, die Stimmung tief, ernst und in der Umgebung, die hierin vortrefflich mitspricht und ergänzt, was in den Figuren angedeutet ist, düster und ungewiß. So wäre das Bild vollkommen, wenn der Schönheit überall in demselben Maße wie dem Ausdrucke genügt wäre; doch hierin fehlt uns Manches, die Lage des Mädchens könnte eben so ausdrucksvoll sein und dabei doch angenehmere Linien bieten; namentlich thut die parallele Lage der Arme dem Ange nicht wohl; dann könnte anch ihr Körper, den der Künstler mit richtiger Absicht ohne Hülle, ja mager bildete, edlere und graciösere Formen zeigen; derLopf des Knaben ist zu groß und schwer gegen den Körper, was namentlich den untern Theil des Ge¬ sichtes stört. Der Künstler verfuhr hier überall rein naturalistisch; aber eine rein naturalistische Behandlung war diesem Gegenstande, der entschieden Schön¬ heit zuließ und forderte, nicht angemessen. Ja, wenn wir alle unsre Wünsche aussprechen und die Kritik mehr in's Detail treiben sollen, so möchten wir auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/183>, abgerufen am 16.06.2024.