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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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ein neues englisches Geschichtswerk gehen. Nach unserer Ueberzeugung übertrifft
auch die schönwisseuschaftliche Literatur des heutigen England die unsrige bei
weitem; indeß darüber laßt sich streiten, über den Vorzug der englische" Geschicht¬
schreibung aber läßt sich nicht streiten. Wir erfreuen uns in Deutschland einer
viel größern kritischen Gelehrsamkeit; sowol in der Anhäufung deö Materials,
als in der Zersetzung desselben stehen wir keinem andern Volke nach; wenn wir
aber daran gehen sollen, die gefundenen Elemente zur wirklichen Gestaltung zu
leiten, so treten uns von allen Seiten eine so große Menge von Bedenken ent¬
gegen, daß wir nicht fertig werden. Es geht uns damit grade so wie mit un-
serer Politik, und wir lassen uns dann sogar wol Complimente über die Gründ¬
lichkeit unseres Scharfsinns machen, der nie abschließt, weil er deutlicher die
Schwierigkeiten erkennt, als ein anderer. Allein wenn in den andern Wissenschaften,
namentlich in den exacten, jedes neugewonnene Resultat an sich ein Gewinn ist,
weil man anch die einzelnen Thatsachen der Natur benutzen und mit ihnen
rechnen kaun, so verlieren historische Forschungen allen Werth, wenn man
nicht wenigstens eine Idee davon hat, wie man sie zu einem ausgeführten Ge¬
mälde benutzen könnte. Die Geschichte streift wenigstens ebenso sehr an das Ge¬
biet der Kunst, wie an das der Wissenschaft; ihr vornehmster Zweck ist grade wie
bei der Kunst, die Seele des Volks zu läutern, zu stählen und zu bereichern.
Sie soll uns die Vergangenheit zur Gegenwart machen, und das kann sie nur
durch künstlerische Thätigkeit. Nun leiden wir in unserem politischen Leben daran,
daß wir uns in unserer Gegenwart noch immer nicht recht zu Hause gefunden
haben, und darum entgeht uns auch das richtige Verhältniß zur Vergangenheit.
Bei uns gehört immer ein gewisser Entschluß und eine Anstrengung dazu, die
Geschichte so aufzufassen und darzustellen, wie es bei den Engländern instiucrmäßig
geschieht.

Das Geschichtwerk des Lord Mahon nannten wir nur uneigentlich ein neues;
der erste Band desselben ist bereits 18 Jahre alt, und das Werk hat ich England
selbst bereits eine festgegründete Stellung. Neu ist es nur für uns Deutsche,
denen es hier in einer billigen und elegant ausgestatteten Ausgabe dargeboten wird.
Möchte doch die Tauchnitzsche Buchhandlung, die sich "in, die Verbreitung der
englischen Literatur in Deutschland so große Verdienste erworben hat, hänfiger
an die englischen Geschichtschreiber gehen; denn soviel Gutes und Interessantes
wir anch in, den Romanen finden, die sie uns mittheilt, so wäre doch bei den
Geschichtschreibern der Gewinn für die Bildung und eigentlich auch das Interesse
unendlich größer.

Das Werk wird in sieben Bänden erscheinen; vorläufig liegt uns der erste
Band vor, der die Jahre 17-13--1720 umfaßt, also diejenige Periode, in welcher
die protestantische Erbfolge sicher gestellt wurde und das Haus Hannover sich all-
mälig in England einbürgerte. Lord Mahon tritt hier ganz entschieden auf


ein neues englisches Geschichtswerk gehen. Nach unserer Ueberzeugung übertrifft
auch die schönwisseuschaftliche Literatur des heutigen England die unsrige bei
weitem; indeß darüber laßt sich streiten, über den Vorzug der englische» Geschicht¬
schreibung aber läßt sich nicht streiten. Wir erfreuen uns in Deutschland einer
viel größern kritischen Gelehrsamkeit; sowol in der Anhäufung deö Materials,
als in der Zersetzung desselben stehen wir keinem andern Volke nach; wenn wir
aber daran gehen sollen, die gefundenen Elemente zur wirklichen Gestaltung zu
leiten, so treten uns von allen Seiten eine so große Menge von Bedenken ent¬
gegen, daß wir nicht fertig werden. Es geht uns damit grade so wie mit un-
serer Politik, und wir lassen uns dann sogar wol Complimente über die Gründ¬
lichkeit unseres Scharfsinns machen, der nie abschließt, weil er deutlicher die
Schwierigkeiten erkennt, als ein anderer. Allein wenn in den andern Wissenschaften,
namentlich in den exacten, jedes neugewonnene Resultat an sich ein Gewinn ist,
weil man anch die einzelnen Thatsachen der Natur benutzen und mit ihnen
rechnen kaun, so verlieren historische Forschungen allen Werth, wenn man
nicht wenigstens eine Idee davon hat, wie man sie zu einem ausgeführten Ge¬
mälde benutzen könnte. Die Geschichte streift wenigstens ebenso sehr an das Ge¬
biet der Kunst, wie an das der Wissenschaft; ihr vornehmster Zweck ist grade wie
bei der Kunst, die Seele des Volks zu läutern, zu stählen und zu bereichern.
Sie soll uns die Vergangenheit zur Gegenwart machen, und das kann sie nur
durch künstlerische Thätigkeit. Nun leiden wir in unserem politischen Leben daran,
daß wir uns in unserer Gegenwart noch immer nicht recht zu Hause gefunden
haben, und darum entgeht uns auch das richtige Verhältniß zur Vergangenheit.
Bei uns gehört immer ein gewisser Entschluß und eine Anstrengung dazu, die
Geschichte so aufzufassen und darzustellen, wie es bei den Engländern instiucrmäßig
geschieht.

Das Geschichtwerk des Lord Mahon nannten wir nur uneigentlich ein neues;
der erste Band desselben ist bereits 18 Jahre alt, und das Werk hat ich England
selbst bereits eine festgegründete Stellung. Neu ist es nur für uns Deutsche,
denen es hier in einer billigen und elegant ausgestatteten Ausgabe dargeboten wird.
Möchte doch die Tauchnitzsche Buchhandlung, die sich »in, die Verbreitung der
englischen Literatur in Deutschland so große Verdienste erworben hat, hänfiger
an die englischen Geschichtschreiber gehen; denn soviel Gutes und Interessantes
wir anch in, den Romanen finden, die sie uns mittheilt, so wäre doch bei den
Geschichtschreibern der Gewinn für die Bildung und eigentlich auch das Interesse
unendlich größer.

Das Werk wird in sieben Bänden erscheinen; vorläufig liegt uns der erste
Band vor, der die Jahre 17-13—1720 umfaßt, also diejenige Periode, in welcher
die protestantische Erbfolge sicher gestellt wurde und das Haus Hannover sich all-
mälig in England einbürgerte. Lord Mahon tritt hier ganz entschieden auf


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[0299] ein neues englisches Geschichtswerk gehen. Nach unserer Ueberzeugung übertrifft auch die schönwisseuschaftliche Literatur des heutigen England die unsrige bei weitem; indeß darüber laßt sich streiten, über den Vorzug der englische» Geschicht¬ schreibung aber läßt sich nicht streiten. Wir erfreuen uns in Deutschland einer viel größern kritischen Gelehrsamkeit; sowol in der Anhäufung deö Materials, als in der Zersetzung desselben stehen wir keinem andern Volke nach; wenn wir aber daran gehen sollen, die gefundenen Elemente zur wirklichen Gestaltung zu leiten, so treten uns von allen Seiten eine so große Menge von Bedenken ent¬ gegen, daß wir nicht fertig werden. Es geht uns damit grade so wie mit un- serer Politik, und wir lassen uns dann sogar wol Complimente über die Gründ¬ lichkeit unseres Scharfsinns machen, der nie abschließt, weil er deutlicher die Schwierigkeiten erkennt, als ein anderer. Allein wenn in den andern Wissenschaften, namentlich in den exacten, jedes neugewonnene Resultat an sich ein Gewinn ist, weil man anch die einzelnen Thatsachen der Natur benutzen und mit ihnen rechnen kaun, so verlieren historische Forschungen allen Werth, wenn man nicht wenigstens eine Idee davon hat, wie man sie zu einem ausgeführten Ge¬ mälde benutzen könnte. Die Geschichte streift wenigstens ebenso sehr an das Ge¬ biet der Kunst, wie an das der Wissenschaft; ihr vornehmster Zweck ist grade wie bei der Kunst, die Seele des Volks zu läutern, zu stählen und zu bereichern. Sie soll uns die Vergangenheit zur Gegenwart machen, und das kann sie nur durch künstlerische Thätigkeit. Nun leiden wir in unserem politischen Leben daran, daß wir uns in unserer Gegenwart noch immer nicht recht zu Hause gefunden haben, und darum entgeht uns auch das richtige Verhältniß zur Vergangenheit. Bei uns gehört immer ein gewisser Entschluß und eine Anstrengung dazu, die Geschichte so aufzufassen und darzustellen, wie es bei den Engländern instiucrmäßig geschieht. Das Geschichtwerk des Lord Mahon nannten wir nur uneigentlich ein neues; der erste Band desselben ist bereits 18 Jahre alt, und das Werk hat ich England selbst bereits eine festgegründete Stellung. Neu ist es nur für uns Deutsche, denen es hier in einer billigen und elegant ausgestatteten Ausgabe dargeboten wird. Möchte doch die Tauchnitzsche Buchhandlung, die sich »in, die Verbreitung der englischen Literatur in Deutschland so große Verdienste erworben hat, hänfiger an die englischen Geschichtschreiber gehen; denn soviel Gutes und Interessantes wir anch in, den Romanen finden, die sie uns mittheilt, so wäre doch bei den Geschichtschreibern der Gewinn für die Bildung und eigentlich auch das Interesse unendlich größer. Das Werk wird in sieben Bänden erscheinen; vorläufig liegt uns der erste Band vor, der die Jahre 17-13—1720 umfaßt, also diejenige Periode, in welcher die protestantische Erbfolge sicher gestellt wurde und das Haus Hannover sich all- mälig in England einbürgerte. Lord Mahon tritt hier ganz entschieden auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/299>, abgerufen am 17.06.2024.