Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

logisch gebauten Fabel beruht, macht den ungefähren Eindruck von nicht genug
zusammenhängenden Scenen,

Die Geschichte, die uns Pichat erzählt, die Charaktere und Schicksale, die
er uns schildert, sind aber interessant genug, um im allereinfachsten Gewände
uns anzuziehen. Der Ernst des Dichters, er mag noch so leicht spötteln, tritt
dem Leser auf jeder Seite entgegen, überall sühlt man, daß es sich um wich¬
tige Lebensfragen handle, die jedermann innig berühren. Man sieht bei den
jungen Geistern, die Deutschland besser zu würdigen verstehen, daß ihnen von
Deutschland doch nur das romantische Deutschland ein wenig geläufiger ist --
von der philosophischen, naturwissenschaftlich antidogmatischen Bewegung und
von der objectiven Epoche der Literatur, die Goethe vertritt, kennen sie nur
wenig. So stört in dem Romane von Pichat eine, ich möchte sagen affectirte
Hervorkehrung des Deismus, womit natürlich zunächst die Tartüferie der
officiellen Religiosität geschlagen werden soll, die aber dennoch einen unerquick¬
lichen Eindruck macht. Lassen wir Gott wo er ist und mischen wir ihn nicht
in unsre Privatangelegenheiten. Das sollte man den Pfaffen überlassen, die
allerdings wissen, was sie thun.

Eine andere Geschichte in dem genannten Buche, Is dorn-Aeoig Santons,
ist von geringerer gesellschaftlicher Bedeutung, aber es ist eine unterhaltende
Erzählung mit echt humoristischer Färbung,

Ueber den bunten Wechsel, der sich in den Schicksalen der Gestalten von
Pichats Romanen und noch mehr in jenen von Balzac kund gibt, darf man
sich billig nicht wundern. Das pariser Leben zeigt uns jeden Tag Aehnliches.
Hat es uns doch noch vor wenigen Jahren einen solchen Wechsel on divo ge¬
zeigt. In der Ferne betrachtet und als Ganzes genommen, besonders wenn
man den Zusammenhang mit den allgemeinen Ereignissen ins Auge saßr, sieht
sich das so ziemlich historisch an. Diese historische Färbung und sagen wir es
auch diese historische Gattung verhindert nicht, daß einzelne Schicksale -- Er¬
höhungen gewisser Persönlichkeiten etwas Komisches an sich haben, und es
ist auch erklärlich, wenn die unmittelbaren Augenzeugen, welchen über den De¬
tails die Perspektive verloren geht, sich überhaupt schwer zu einem historischen
Urtheile hinausschwingen.

Aber auch außer den bedeutenden Veränderungen, welche der Staats¬
streich hervorgerufen, bringt uns die vertraute Chronik von Paris jeden Tag
Geschichten von Empörkommnissen,, die, nicht selbst erlebt, fabelhaft klingen.
Hier ein Beispiel einer solchen pariser Metamorphose.

Ein Bekannter von mir hatte einen Schwarzen zum Bedienten. Sein
Vater war Mulatte und seine Mutter eine Negerin. Der Vater, ursprüng¬
lich reich, verlor später sein Vermögen. Die Mutter verließ den fünfzehn¬
jährigen Knaben und dieser fand sich auf den pariser Boden geworfen, brot-


logisch gebauten Fabel beruht, macht den ungefähren Eindruck von nicht genug
zusammenhängenden Scenen,

Die Geschichte, die uns Pichat erzählt, die Charaktere und Schicksale, die
er uns schildert, sind aber interessant genug, um im allereinfachsten Gewände
uns anzuziehen. Der Ernst des Dichters, er mag noch so leicht spötteln, tritt
dem Leser auf jeder Seite entgegen, überall sühlt man, daß es sich um wich¬
tige Lebensfragen handle, die jedermann innig berühren. Man sieht bei den
jungen Geistern, die Deutschland besser zu würdigen verstehen, daß ihnen von
Deutschland doch nur das romantische Deutschland ein wenig geläufiger ist —
von der philosophischen, naturwissenschaftlich antidogmatischen Bewegung und
von der objectiven Epoche der Literatur, die Goethe vertritt, kennen sie nur
wenig. So stört in dem Romane von Pichat eine, ich möchte sagen affectirte
Hervorkehrung des Deismus, womit natürlich zunächst die Tartüferie der
officiellen Religiosität geschlagen werden soll, die aber dennoch einen unerquick¬
lichen Eindruck macht. Lassen wir Gott wo er ist und mischen wir ihn nicht
in unsre Privatangelegenheiten. Das sollte man den Pfaffen überlassen, die
allerdings wissen, was sie thun.

Eine andere Geschichte in dem genannten Buche, Is dorn-Aeoig Santons,
ist von geringerer gesellschaftlicher Bedeutung, aber es ist eine unterhaltende
Erzählung mit echt humoristischer Färbung,

Ueber den bunten Wechsel, der sich in den Schicksalen der Gestalten von
Pichats Romanen und noch mehr in jenen von Balzac kund gibt, darf man
sich billig nicht wundern. Das pariser Leben zeigt uns jeden Tag Aehnliches.
Hat es uns doch noch vor wenigen Jahren einen solchen Wechsel on divo ge¬
zeigt. In der Ferne betrachtet und als Ganzes genommen, besonders wenn
man den Zusammenhang mit den allgemeinen Ereignissen ins Auge saßr, sieht
sich das so ziemlich historisch an. Diese historische Färbung und sagen wir es
auch diese historische Gattung verhindert nicht, daß einzelne Schicksale — Er¬
höhungen gewisser Persönlichkeiten etwas Komisches an sich haben, und es
ist auch erklärlich, wenn die unmittelbaren Augenzeugen, welchen über den De¬
tails die Perspektive verloren geht, sich überhaupt schwer zu einem historischen
Urtheile hinausschwingen.

Aber auch außer den bedeutenden Veränderungen, welche der Staats¬
streich hervorgerufen, bringt uns die vertraute Chronik von Paris jeden Tag
Geschichten von Empörkommnissen,, die, nicht selbst erlebt, fabelhaft klingen.
Hier ein Beispiel einer solchen pariser Metamorphose.

Ein Bekannter von mir hatte einen Schwarzen zum Bedienten. Sein
Vater war Mulatte und seine Mutter eine Negerin. Der Vater, ursprüng¬
lich reich, verlor später sein Vermögen. Die Mutter verließ den fünfzehn¬
jährigen Knaben und dieser fand sich auf den pariser Boden geworfen, brot-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0195" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100649"/>
          <p xml:id="ID_550" prev="#ID_549"> logisch gebauten Fabel beruht, macht den ungefähren Eindruck von nicht genug<lb/>
zusammenhängenden Scenen,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_551"> Die Geschichte, die uns Pichat erzählt, die Charaktere und Schicksale, die<lb/>
er uns schildert, sind aber interessant genug, um im allereinfachsten Gewände<lb/>
uns anzuziehen. Der Ernst des Dichters, er mag noch so leicht spötteln, tritt<lb/>
dem Leser auf jeder Seite entgegen, überall sühlt man, daß es sich um wich¬<lb/>
tige Lebensfragen handle, die jedermann innig berühren. Man sieht bei den<lb/>
jungen Geistern, die Deutschland besser zu würdigen verstehen, daß ihnen von<lb/>
Deutschland doch nur das romantische Deutschland ein wenig geläufiger ist &#x2014;<lb/>
von der philosophischen, naturwissenschaftlich antidogmatischen Bewegung und<lb/>
von der objectiven Epoche der Literatur, die Goethe vertritt, kennen sie nur<lb/>
wenig. So stört in dem Romane von Pichat eine, ich möchte sagen affectirte<lb/>
Hervorkehrung des Deismus, womit natürlich zunächst die Tartüferie der<lb/>
officiellen Religiosität geschlagen werden soll, die aber dennoch einen unerquick¬<lb/>
lichen Eindruck macht. Lassen wir Gott wo er ist und mischen wir ihn nicht<lb/>
in unsre Privatangelegenheiten. Das sollte man den Pfaffen überlassen, die<lb/>
allerdings wissen, was sie thun.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_552"> Eine andere Geschichte in dem genannten Buche, Is dorn-Aeoig Santons,<lb/>
ist von geringerer gesellschaftlicher Bedeutung, aber es ist eine unterhaltende<lb/>
Erzählung mit echt humoristischer Färbung,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_553"> Ueber den bunten Wechsel, der sich in den Schicksalen der Gestalten von<lb/>
Pichats Romanen und noch mehr in jenen von Balzac kund gibt, darf man<lb/>
sich billig nicht wundern. Das pariser Leben zeigt uns jeden Tag Aehnliches.<lb/>
Hat es uns doch noch vor wenigen Jahren einen solchen Wechsel on divo ge¬<lb/>
zeigt. In der Ferne betrachtet und als Ganzes genommen, besonders wenn<lb/>
man den Zusammenhang mit den allgemeinen Ereignissen ins Auge saßr, sieht<lb/>
sich das so ziemlich historisch an. Diese historische Färbung und sagen wir es<lb/>
auch diese historische Gattung verhindert nicht, daß einzelne Schicksale &#x2014; Er¬<lb/>
höhungen gewisser Persönlichkeiten etwas Komisches an sich haben, und es<lb/>
ist auch erklärlich, wenn die unmittelbaren Augenzeugen, welchen über den De¬<lb/>
tails die Perspektive verloren geht, sich überhaupt schwer zu einem historischen<lb/>
Urtheile hinausschwingen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_554"> Aber auch außer den bedeutenden Veränderungen, welche der Staats¬<lb/>
streich hervorgerufen, bringt uns die vertraute Chronik von Paris jeden Tag<lb/>
Geschichten von Empörkommnissen,, die, nicht selbst erlebt, fabelhaft klingen.<lb/>
Hier ein Beispiel einer solchen pariser Metamorphose.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_555" next="#ID_556"> Ein Bekannter von mir hatte einen Schwarzen zum Bedienten. Sein<lb/>
Vater war Mulatte und seine Mutter eine Negerin. Der Vater, ursprüng¬<lb/>
lich reich, verlor später sein Vermögen. Die Mutter verließ den fünfzehn¬<lb/>
jährigen Knaben und dieser fand sich auf den pariser Boden geworfen, brot-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0195] logisch gebauten Fabel beruht, macht den ungefähren Eindruck von nicht genug zusammenhängenden Scenen, Die Geschichte, die uns Pichat erzählt, die Charaktere und Schicksale, die er uns schildert, sind aber interessant genug, um im allereinfachsten Gewände uns anzuziehen. Der Ernst des Dichters, er mag noch so leicht spötteln, tritt dem Leser auf jeder Seite entgegen, überall sühlt man, daß es sich um wich¬ tige Lebensfragen handle, die jedermann innig berühren. Man sieht bei den jungen Geistern, die Deutschland besser zu würdigen verstehen, daß ihnen von Deutschland doch nur das romantische Deutschland ein wenig geläufiger ist — von der philosophischen, naturwissenschaftlich antidogmatischen Bewegung und von der objectiven Epoche der Literatur, die Goethe vertritt, kennen sie nur wenig. So stört in dem Romane von Pichat eine, ich möchte sagen affectirte Hervorkehrung des Deismus, womit natürlich zunächst die Tartüferie der officiellen Religiosität geschlagen werden soll, die aber dennoch einen unerquick¬ lichen Eindruck macht. Lassen wir Gott wo er ist und mischen wir ihn nicht in unsre Privatangelegenheiten. Das sollte man den Pfaffen überlassen, die allerdings wissen, was sie thun. Eine andere Geschichte in dem genannten Buche, Is dorn-Aeoig Santons, ist von geringerer gesellschaftlicher Bedeutung, aber es ist eine unterhaltende Erzählung mit echt humoristischer Färbung, Ueber den bunten Wechsel, der sich in den Schicksalen der Gestalten von Pichats Romanen und noch mehr in jenen von Balzac kund gibt, darf man sich billig nicht wundern. Das pariser Leben zeigt uns jeden Tag Aehnliches. Hat es uns doch noch vor wenigen Jahren einen solchen Wechsel on divo ge¬ zeigt. In der Ferne betrachtet und als Ganzes genommen, besonders wenn man den Zusammenhang mit den allgemeinen Ereignissen ins Auge saßr, sieht sich das so ziemlich historisch an. Diese historische Färbung und sagen wir es auch diese historische Gattung verhindert nicht, daß einzelne Schicksale — Er¬ höhungen gewisser Persönlichkeiten etwas Komisches an sich haben, und es ist auch erklärlich, wenn die unmittelbaren Augenzeugen, welchen über den De¬ tails die Perspektive verloren geht, sich überhaupt schwer zu einem historischen Urtheile hinausschwingen. Aber auch außer den bedeutenden Veränderungen, welche der Staats¬ streich hervorgerufen, bringt uns die vertraute Chronik von Paris jeden Tag Geschichten von Empörkommnissen,, die, nicht selbst erlebt, fabelhaft klingen. Hier ein Beispiel einer solchen pariser Metamorphose. Ein Bekannter von mir hatte einen Schwarzen zum Bedienten. Sein Vater war Mulatte und seine Mutter eine Negerin. Der Vater, ursprüng¬ lich reich, verlor später sein Vermögen. Die Mutter verließ den fünfzehn¬ jährigen Knaben und dieser fand sich auf den pariser Boden geworfen, brot-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/195
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/195>, abgerufen am 23.05.2024.