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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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mal annehmen, die Preßvergehen sollten der Entscheidung der Geschwornen
entzogen werden, wie das schon lange der sehnlichste Wunsch der Reaction ist.
Da, um dahin zu gelangen, jedoch der 98. Artikel der Constitution verändert
werden müßte, so würden, um diese Revision vornehmen zu können, Umstände
veranlaßt werden, die einen ganz andern Erfolg ergeben könnten, als den ge¬
wünschten. Die legislative Gewalt müßte zuerst erklirren, daß Grund vorhan¬
den, den fraglichen Artikel zu revidiren. Nach dieser Erklärung würden beide
Kammern von Rechtswegen aufgelöst und es müßten neue gewählt werden.
Diese neuen Kammern würden nun über die der Revision unterzogenen Punkte
zu erkennen haben und um darüber zu verhandeln, müßten wenigstens zwei
Drittel der Mitglieder, woraus jede der Kammern besteht, gegenwärtig sein,
und keine Veränderung könnte angenommen werden, wenn nicht wenigstens
zwei Drittel der Stimmen dafür wären. Wie man sieht, hat der National-
congreß, aus dessen Deliberationen die Constitution hervorgegangen ist, jede
Abänderung derselben soviel wie möglich erschwert; und dann ist noch zu be¬
merken, daß in unsern Kammern keine vom Staate besoldete Beamte sitzen,
die nur zu geneigt sind, der Regierung als willfähriges Mundstück zu dienen.

Laßt sie frei sich bewegen, diese belgische Presse, die niemals das betrübende
Schauspiel geben wird, welches die Pressen anderer Staaten seit einiger Zeit
vor den Augen Europas aufführen. In Belgien manifestirt sich die Freiheit nicht
für eine Partei, sondern für jede und alle Parteien. Zur Seite einer Presse,
welche eine Politik des Gleichgewichts, basirt auf die Neutralität der deutschen
Staaten, vertheidigt, zwischen den westmächtlichen Einflüssen und dem Einfluß
Rußlands, hat sich eine englisch-französische und eine russische Presse etablirt,
die frei und offen, ohne Hindernisse, ohne daß dabei auf die Negierung die
geringste Verantwortlichkeitj.zurückfällt, die ausschließlichen Interessen der Mächte,
deren Sache sie ergriffen haben, discutiren. Neben der Emancipation der
Nord, gegenüber der moskowitischen Tribüne die der Westmächte. In diesem
Zusammenstoß der Meinungen , in diesem friedlichen Streite aller Systeme, aller
Ideen, aller Einflüsse ist es, wo für alle Mächte das wahre Pfand der Neu¬
tralität" und Unparteilichkeit der belgischen Negierung ruht. Laßt sie frei diese
Presse. Eines Tages vielleicht, wenn der Augenblick gekommen sein wird, die
Rechnungen dieses Krieges abzuschließen, wird England sich Glück wünschen,
auf dem Continent eine kleine Nation zu finden, wo die Traditionen der Frei¬
heit-noch nicht verlöscht sind.

Vor einiger Zeit zeigten unsre Journale die Bildung einer Commission
an, die bestimmt wäre, über die Mittel zu'berathen, um Belgien eine Kriegs¬
marine zu verschaffen. Diese Anzeige flößte mir, muß ich gestehen, keinerlei
Vertrauen ein; ich nahm sie einfach für einen Humbug oder für eine sehr
Zerzauste Ente. Lebten wir noch im Mittelalter, wären unsre Küsten noch


mal annehmen, die Preßvergehen sollten der Entscheidung der Geschwornen
entzogen werden, wie das schon lange der sehnlichste Wunsch der Reaction ist.
Da, um dahin zu gelangen, jedoch der 98. Artikel der Constitution verändert
werden müßte, so würden, um diese Revision vornehmen zu können, Umstände
veranlaßt werden, die einen ganz andern Erfolg ergeben könnten, als den ge¬
wünschten. Die legislative Gewalt müßte zuerst erklirren, daß Grund vorhan¬
den, den fraglichen Artikel zu revidiren. Nach dieser Erklärung würden beide
Kammern von Rechtswegen aufgelöst und es müßten neue gewählt werden.
Diese neuen Kammern würden nun über die der Revision unterzogenen Punkte
zu erkennen haben und um darüber zu verhandeln, müßten wenigstens zwei
Drittel der Mitglieder, woraus jede der Kammern besteht, gegenwärtig sein,
und keine Veränderung könnte angenommen werden, wenn nicht wenigstens
zwei Drittel der Stimmen dafür wären. Wie man sieht, hat der National-
congreß, aus dessen Deliberationen die Constitution hervorgegangen ist, jede
Abänderung derselben soviel wie möglich erschwert; und dann ist noch zu be¬
merken, daß in unsern Kammern keine vom Staate besoldete Beamte sitzen,
die nur zu geneigt sind, der Regierung als willfähriges Mundstück zu dienen.

Laßt sie frei sich bewegen, diese belgische Presse, die niemals das betrübende
Schauspiel geben wird, welches die Pressen anderer Staaten seit einiger Zeit
vor den Augen Europas aufführen. In Belgien manifestirt sich die Freiheit nicht
für eine Partei, sondern für jede und alle Parteien. Zur Seite einer Presse,
welche eine Politik des Gleichgewichts, basirt auf die Neutralität der deutschen
Staaten, vertheidigt, zwischen den westmächtlichen Einflüssen und dem Einfluß
Rußlands, hat sich eine englisch-französische und eine russische Presse etablirt,
die frei und offen, ohne Hindernisse, ohne daß dabei auf die Negierung die
geringste Verantwortlichkeitj.zurückfällt, die ausschließlichen Interessen der Mächte,
deren Sache sie ergriffen haben, discutiren. Neben der Emancipation der
Nord, gegenüber der moskowitischen Tribüne die der Westmächte. In diesem
Zusammenstoß der Meinungen , in diesem friedlichen Streite aller Systeme, aller
Ideen, aller Einflüsse ist es, wo für alle Mächte das wahre Pfand der Neu¬
tralität" und Unparteilichkeit der belgischen Negierung ruht. Laßt sie frei diese
Presse. Eines Tages vielleicht, wenn der Augenblick gekommen sein wird, die
Rechnungen dieses Krieges abzuschließen, wird England sich Glück wünschen,
auf dem Continent eine kleine Nation zu finden, wo die Traditionen der Frei¬
heit-noch nicht verlöscht sind.

Vor einiger Zeit zeigten unsre Journale die Bildung einer Commission
an, die bestimmt wäre, über die Mittel zu'berathen, um Belgien eine Kriegs¬
marine zu verschaffen. Diese Anzeige flößte mir, muß ich gestehen, keinerlei
Vertrauen ein; ich nahm sie einfach für einen Humbug oder für eine sehr
Zerzauste Ente. Lebten wir noch im Mittelalter, wären unsre Küsten noch


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[0317] mal annehmen, die Preßvergehen sollten der Entscheidung der Geschwornen entzogen werden, wie das schon lange der sehnlichste Wunsch der Reaction ist. Da, um dahin zu gelangen, jedoch der 98. Artikel der Constitution verändert werden müßte, so würden, um diese Revision vornehmen zu können, Umstände veranlaßt werden, die einen ganz andern Erfolg ergeben könnten, als den ge¬ wünschten. Die legislative Gewalt müßte zuerst erklirren, daß Grund vorhan¬ den, den fraglichen Artikel zu revidiren. Nach dieser Erklärung würden beide Kammern von Rechtswegen aufgelöst und es müßten neue gewählt werden. Diese neuen Kammern würden nun über die der Revision unterzogenen Punkte zu erkennen haben und um darüber zu verhandeln, müßten wenigstens zwei Drittel der Mitglieder, woraus jede der Kammern besteht, gegenwärtig sein, und keine Veränderung könnte angenommen werden, wenn nicht wenigstens zwei Drittel der Stimmen dafür wären. Wie man sieht, hat der National- congreß, aus dessen Deliberationen die Constitution hervorgegangen ist, jede Abänderung derselben soviel wie möglich erschwert; und dann ist noch zu be¬ merken, daß in unsern Kammern keine vom Staate besoldete Beamte sitzen, die nur zu geneigt sind, der Regierung als willfähriges Mundstück zu dienen. Laßt sie frei sich bewegen, diese belgische Presse, die niemals das betrübende Schauspiel geben wird, welches die Pressen anderer Staaten seit einiger Zeit vor den Augen Europas aufführen. In Belgien manifestirt sich die Freiheit nicht für eine Partei, sondern für jede und alle Parteien. Zur Seite einer Presse, welche eine Politik des Gleichgewichts, basirt auf die Neutralität der deutschen Staaten, vertheidigt, zwischen den westmächtlichen Einflüssen und dem Einfluß Rußlands, hat sich eine englisch-französische und eine russische Presse etablirt, die frei und offen, ohne Hindernisse, ohne daß dabei auf die Negierung die geringste Verantwortlichkeitj.zurückfällt, die ausschließlichen Interessen der Mächte, deren Sache sie ergriffen haben, discutiren. Neben der Emancipation der Nord, gegenüber der moskowitischen Tribüne die der Westmächte. In diesem Zusammenstoß der Meinungen , in diesem friedlichen Streite aller Systeme, aller Ideen, aller Einflüsse ist es, wo für alle Mächte das wahre Pfand der Neu¬ tralität" und Unparteilichkeit der belgischen Negierung ruht. Laßt sie frei diese Presse. Eines Tages vielleicht, wenn der Augenblick gekommen sein wird, die Rechnungen dieses Krieges abzuschließen, wird England sich Glück wünschen, auf dem Continent eine kleine Nation zu finden, wo die Traditionen der Frei¬ heit-noch nicht verlöscht sind. Vor einiger Zeit zeigten unsre Journale die Bildung einer Commission an, die bestimmt wäre, über die Mittel zu'berathen, um Belgien eine Kriegs¬ marine zu verschaffen. Diese Anzeige flößte mir, muß ich gestehen, keinerlei Vertrauen ein; ich nahm sie einfach für einen Humbug oder für eine sehr Zerzauste Ente. Lebten wir noch im Mittelalter, wären unsre Küsten noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/317>, abgerufen am 05.06.2024.