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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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gewitter, der fanatische Bevölkerer Rußlands, hat ihr blos 16,000 verliehen?
Der officielle Petersburger Kalender, welcher auch die hierher "angeschriebenen"
Handwerker und Kaufleute Sweaborgs beizählt (welche Herr Ungewitter wieder
apart auf 3300 berechnet), weiß blos von 42,70S? Und unbefangene Zähler
wollen gar nur -10,000 annehmen, indem sie behaupten, früher, ehe Abo der
Universität und sonstiger Vortheile beraubt gewesen sei, Um Helsingfors zu
füllen, habe dieses trotzdem auch ohne Garnison 12 --1i,000 Einwohner um¬
schlossen. Wer löst solche statistische Widersprüche, wer selbst nur das Miß-
Verhältniß ihrer höchsten Annahmen zur äußeren Erscheinung der Stadt? Be¬
treten wir ihre Straßen.

Sie sind breit und geradlinig, Haus steht an Haus, meistens lang hin¬
gestreckt. Und wenn man noch nicht tief in das Stadtinnere gedrungen, kann
man bequem die Täuschung bewahren, man stehe aus Petersburger Boden.
Russisch und deutsch machen sich die Herrschaft streitig auf den Handelsfirmen;
derselbe Ausputz in den Läden, wie in den weniger eleganten Petersburger
Stadtvierteln, dieselbe wunderliche Mannigfaltigkeit der Waaren, wie in den
Allerhandsbuden (Melotschnaia lafka) der Petersburger Vorstädte. Wol auch
dieselbe unerläßliche große Katze auf der Schwelle der Ladenthür, besonders
wenn ein langbärtiger Russe im blauen Oberrock mit aalglatter Geschwindigkeit
zwischen dem Chaos von Seidenstoffen und Stiefelwaaren, brillantem Schmuck
und Kabeljau, Krystallgefäßen und Oelfässern, Zuckerhüten und Obsthaufen
herumfährt. Nur die Menschen auf der Straße sind selten, wenn nicht grade
die Mittagsstunden die elegante Welt von Helsingfors an den Hafeneingängen
der Stadt versammelt. Doch bleiben von sechs Begegnenden männlichen Ge¬
schlechts sicherlich auch dann noch fünf unisormirt. Und Wagengerassel stört
nur selten die Stadt aus ihrer feiertäglichen Stille auf.

Man muß schon tiefer in die Stadt dringen, um die eigentliche Stadt
kennen zu lernen, oder vielmehr die Neste dessen, was von ihrem ursprünglichen
Charakter übriggeblieben ist. Und fast kann man sagen, der SenatSplatz, auf
welchem sich die Petersburger Häuserpracht noch einmal so recht entfaltet, bildet
die Grenzbreite von dem, was in den Augen des Staates als Helsingfors gilt
und dem, was noch finnisch an Helsingfors ist. Die eine Seite des Senats-
platzcs nimmt das kolossale Senatsgebäude ein, sein Gegenüber ist die Uni¬
versität; an der dritten Seite hebt sich die prachtvolle Se. Nikolaikirche mit
ihren granitnen Stufen und Säulen, mit ihrer blauen, von goldnen Sternen
übersäten Kuppel und inmitten der vierten Fronte bewahrt das Rathhaus sei¬
nen Platz zwischen eleganten Privatgebäuden.

Ehemals, da Finnland unter Schweden und selbst im Beginne russischer
Herrschaft sich immerhin als selbstständiges Großfürstenthum behauptete, residirte
der "regierende R.ath" in der historischen Landeshauptstadt Abo. Damals hatte


gewitter, der fanatische Bevölkerer Rußlands, hat ihr blos 16,000 verliehen?
Der officielle Petersburger Kalender, welcher auch die hierher „angeschriebenen"
Handwerker und Kaufleute Sweaborgs beizählt (welche Herr Ungewitter wieder
apart auf 3300 berechnet), weiß blos von 42,70S? Und unbefangene Zähler
wollen gar nur -10,000 annehmen, indem sie behaupten, früher, ehe Abo der
Universität und sonstiger Vortheile beraubt gewesen sei, Um Helsingfors zu
füllen, habe dieses trotzdem auch ohne Garnison 12 —1i,000 Einwohner um¬
schlossen. Wer löst solche statistische Widersprüche, wer selbst nur das Miß-
Verhältniß ihrer höchsten Annahmen zur äußeren Erscheinung der Stadt? Be¬
treten wir ihre Straßen.

Sie sind breit und geradlinig, Haus steht an Haus, meistens lang hin¬
gestreckt. Und wenn man noch nicht tief in das Stadtinnere gedrungen, kann
man bequem die Täuschung bewahren, man stehe aus Petersburger Boden.
Russisch und deutsch machen sich die Herrschaft streitig auf den Handelsfirmen;
derselbe Ausputz in den Läden, wie in den weniger eleganten Petersburger
Stadtvierteln, dieselbe wunderliche Mannigfaltigkeit der Waaren, wie in den
Allerhandsbuden (Melotschnaia lafka) der Petersburger Vorstädte. Wol auch
dieselbe unerläßliche große Katze auf der Schwelle der Ladenthür, besonders
wenn ein langbärtiger Russe im blauen Oberrock mit aalglatter Geschwindigkeit
zwischen dem Chaos von Seidenstoffen und Stiefelwaaren, brillantem Schmuck
und Kabeljau, Krystallgefäßen und Oelfässern, Zuckerhüten und Obsthaufen
herumfährt. Nur die Menschen auf der Straße sind selten, wenn nicht grade
die Mittagsstunden die elegante Welt von Helsingfors an den Hafeneingängen
der Stadt versammelt. Doch bleiben von sechs Begegnenden männlichen Ge¬
schlechts sicherlich auch dann noch fünf unisormirt. Und Wagengerassel stört
nur selten die Stadt aus ihrer feiertäglichen Stille auf.

Man muß schon tiefer in die Stadt dringen, um die eigentliche Stadt
kennen zu lernen, oder vielmehr die Neste dessen, was von ihrem ursprünglichen
Charakter übriggeblieben ist. Und fast kann man sagen, der SenatSplatz, auf
welchem sich die Petersburger Häuserpracht noch einmal so recht entfaltet, bildet
die Grenzbreite von dem, was in den Augen des Staates als Helsingfors gilt
und dem, was noch finnisch an Helsingfors ist. Die eine Seite des Senats-
platzcs nimmt das kolossale Senatsgebäude ein, sein Gegenüber ist die Uni¬
versität; an der dritten Seite hebt sich die prachtvolle Se. Nikolaikirche mit
ihren granitnen Stufen und Säulen, mit ihrer blauen, von goldnen Sternen
übersäten Kuppel und inmitten der vierten Fronte bewahrt das Rathhaus sei¬
nen Platz zwischen eleganten Privatgebäuden.

Ehemals, da Finnland unter Schweden und selbst im Beginne russischer
Herrschaft sich immerhin als selbstständiges Großfürstenthum behauptete, residirte
der „regierende R.ath" in der historischen Landeshauptstadt Abo. Damals hatte


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[0213] gewitter, der fanatische Bevölkerer Rußlands, hat ihr blos 16,000 verliehen? Der officielle Petersburger Kalender, welcher auch die hierher „angeschriebenen" Handwerker und Kaufleute Sweaborgs beizählt (welche Herr Ungewitter wieder apart auf 3300 berechnet), weiß blos von 42,70S? Und unbefangene Zähler wollen gar nur -10,000 annehmen, indem sie behaupten, früher, ehe Abo der Universität und sonstiger Vortheile beraubt gewesen sei, Um Helsingfors zu füllen, habe dieses trotzdem auch ohne Garnison 12 —1i,000 Einwohner um¬ schlossen. Wer löst solche statistische Widersprüche, wer selbst nur das Miß- Verhältniß ihrer höchsten Annahmen zur äußeren Erscheinung der Stadt? Be¬ treten wir ihre Straßen. Sie sind breit und geradlinig, Haus steht an Haus, meistens lang hin¬ gestreckt. Und wenn man noch nicht tief in das Stadtinnere gedrungen, kann man bequem die Täuschung bewahren, man stehe aus Petersburger Boden. Russisch und deutsch machen sich die Herrschaft streitig auf den Handelsfirmen; derselbe Ausputz in den Läden, wie in den weniger eleganten Petersburger Stadtvierteln, dieselbe wunderliche Mannigfaltigkeit der Waaren, wie in den Allerhandsbuden (Melotschnaia lafka) der Petersburger Vorstädte. Wol auch dieselbe unerläßliche große Katze auf der Schwelle der Ladenthür, besonders wenn ein langbärtiger Russe im blauen Oberrock mit aalglatter Geschwindigkeit zwischen dem Chaos von Seidenstoffen und Stiefelwaaren, brillantem Schmuck und Kabeljau, Krystallgefäßen und Oelfässern, Zuckerhüten und Obsthaufen herumfährt. Nur die Menschen auf der Straße sind selten, wenn nicht grade die Mittagsstunden die elegante Welt von Helsingfors an den Hafeneingängen der Stadt versammelt. Doch bleiben von sechs Begegnenden männlichen Ge¬ schlechts sicherlich auch dann noch fünf unisormirt. Und Wagengerassel stört nur selten die Stadt aus ihrer feiertäglichen Stille auf. Man muß schon tiefer in die Stadt dringen, um die eigentliche Stadt kennen zu lernen, oder vielmehr die Neste dessen, was von ihrem ursprünglichen Charakter übriggeblieben ist. Und fast kann man sagen, der SenatSplatz, auf welchem sich die Petersburger Häuserpracht noch einmal so recht entfaltet, bildet die Grenzbreite von dem, was in den Augen des Staates als Helsingfors gilt und dem, was noch finnisch an Helsingfors ist. Die eine Seite des Senats- platzcs nimmt das kolossale Senatsgebäude ein, sein Gegenüber ist die Uni¬ versität; an der dritten Seite hebt sich die prachtvolle Se. Nikolaikirche mit ihren granitnen Stufen und Säulen, mit ihrer blauen, von goldnen Sternen übersäten Kuppel und inmitten der vierten Fronte bewahrt das Rathhaus sei¬ nen Platz zwischen eleganten Privatgebäuden. Ehemals, da Finnland unter Schweden und selbst im Beginne russischer Herrschaft sich immerhin als selbstständiges Großfürstenthum behauptete, residirte der „regierende R.ath" in der historischen Landeshauptstadt Abo. Damals hatte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/213>, abgerufen am 17.06.2024.