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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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welche die Parteikritik ihr beizulegen gesucht hatte. Die eben erwähnte Scene
in der Kirche von La Chatre beweist aber zugleich, daß Marie Aurore "von
Sachsen" ihre Enkelin nicht ohne religiösen Unterricht aufwachsen ließ, wie dies
oft behauptet wurde.

ES ließe sich auch schwer begreifen, daß ein fester Charakter wie die Gro߬
mutter sich plötzlich dazu verstanden haben sollte, das geliebte Kind in ein
Kloster (Couvert des Anglaises) zu schicken, um daselbst seine Erziehung zu
vollenden.

Die Trennung von der Großmutter, die das Mädchen über alles liebte,
ward noch erschwert durch seine Liebe zu dein Schlosse vou Nvhaut. In den
"'Briefen eines Reisenden", welche von Georges Sand selbst als eines jener
Bücher bezeichnet wird, in denen sie mehr oder minder idealisirte Erinnerungen
niedergeschrieben hat, finden wir eine Stelle, die sich aus ihr Jugenvleben in
Nohaut bezieht.

"Wer von uns erinnert," sagt sie, "erinnert sich nicht mit Liebe an die ersten
Werke, die er verschlungen oder langsam verschmeckt hat (suvour68)! Hat dir'
der Einband eines staubigen Buches aus dem Fache eiues vergessenen Kastens
niemals das anmuthige Bild deiner jungen Jahre zurückgerufen? Hast du nicht
geglaubt, die große Wiese vor dir liegen zu sehen, gebadet im hellen Abend¬
röthe, wie zur Zeit, als du es zum ersten Male gelesen? Ach, wie siel die
Nacht so schnell aus diese göttlichen Seiten! Wie grausam ließ die Dämmerung
die Buchstaben auf dem erbleichenden Blatte hin- und herschwimmen!"

"ES ist darum geschehen, die Lämmer blöken, die Schafe sind zum Salle
gelangt, das Heimchen nimmt Besitz von den Hütten und von der Ebene. Man
muß sich aufmachen."

"Der Weg ist steinig, die Schleuße schmal und gleitend, der Abhang rauh."

"Du bist von Schweiß gebadet, aber umsonst ist dein Bemühen, du wirst
zu spät kommen, das Abendmahl wird begonnen sein."

"Vergebens wird der alte Diener, der dich liebt, den Schall der Glocke so¬
lange als möglich verzögert haben, du wirst die Demüthigung haben, alö der
letzte zu kommen, und die Großmutter, unerbittlich an der Etikette haltend, wird
dir mit trauriger und sanfter Stimme einen sehr leisen, sehr zärtlichen Vorwurf
machen, der dir empfindlicher däucht, als eine harte Strafe."

"Aber wenn sie des Abends die Beichte deines Tages verlangt und du
erröthend eingestanden haben wirst, daß du dich lesend auf einer Wiese ver¬
gaßest, und du aufgefordert das Buch zu zeigen mit Zittern aus der Tasche
ziehest, was? Estelle und Nemorin."

"O dann lächelt die Großmutter."

"Beruhige dich, dein Schatz soll dir wiedergegeben werden, aber du darfst
nicht mehr die Stunoe des Abendbrotes vergessen."


welche die Parteikritik ihr beizulegen gesucht hatte. Die eben erwähnte Scene
in der Kirche von La Chatre beweist aber zugleich, daß Marie Aurore „von
Sachsen" ihre Enkelin nicht ohne religiösen Unterricht aufwachsen ließ, wie dies
oft behauptet wurde.

ES ließe sich auch schwer begreifen, daß ein fester Charakter wie die Gro߬
mutter sich plötzlich dazu verstanden haben sollte, das geliebte Kind in ein
Kloster (Couvert des Anglaises) zu schicken, um daselbst seine Erziehung zu
vollenden.

Die Trennung von der Großmutter, die das Mädchen über alles liebte,
ward noch erschwert durch seine Liebe zu dein Schlosse vou Nvhaut. In den
„'Briefen eines Reisenden", welche von Georges Sand selbst als eines jener
Bücher bezeichnet wird, in denen sie mehr oder minder idealisirte Erinnerungen
niedergeschrieben hat, finden wir eine Stelle, die sich aus ihr Jugenvleben in
Nohaut bezieht.

„Wer von uns erinnert," sagt sie, „erinnert sich nicht mit Liebe an die ersten
Werke, die er verschlungen oder langsam verschmeckt hat (suvour68)! Hat dir'
der Einband eines staubigen Buches aus dem Fache eiues vergessenen Kastens
niemals das anmuthige Bild deiner jungen Jahre zurückgerufen? Hast du nicht
geglaubt, die große Wiese vor dir liegen zu sehen, gebadet im hellen Abend¬
röthe, wie zur Zeit, als du es zum ersten Male gelesen? Ach, wie siel die
Nacht so schnell aus diese göttlichen Seiten! Wie grausam ließ die Dämmerung
die Buchstaben auf dem erbleichenden Blatte hin- und herschwimmen!"

„ES ist darum geschehen, die Lämmer blöken, die Schafe sind zum Salle
gelangt, das Heimchen nimmt Besitz von den Hütten und von der Ebene. Man
muß sich aufmachen."

„Der Weg ist steinig, die Schleuße schmal und gleitend, der Abhang rauh."

„Du bist von Schweiß gebadet, aber umsonst ist dein Bemühen, du wirst
zu spät kommen, das Abendmahl wird begonnen sein."

„Vergebens wird der alte Diener, der dich liebt, den Schall der Glocke so¬
lange als möglich verzögert haben, du wirst die Demüthigung haben, alö der
letzte zu kommen, und die Großmutter, unerbittlich an der Etikette haltend, wird
dir mit trauriger und sanfter Stimme einen sehr leisen, sehr zärtlichen Vorwurf
machen, der dir empfindlicher däucht, als eine harte Strafe."

„Aber wenn sie des Abends die Beichte deines Tages verlangt und du
erröthend eingestanden haben wirst, daß du dich lesend auf einer Wiese ver¬
gaßest, und du aufgefordert das Buch zu zeigen mit Zittern aus der Tasche
ziehest, was? Estelle und Nemorin."

„O dann lächelt die Großmutter."

„Beruhige dich, dein Schatz soll dir wiedergegeben werden, aber du darfst
nicht mehr die Stunoe des Abendbrotes vergessen."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/222>, abgerufen am 17.06.2024.