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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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eingedeckt sind, um gegen Regen zu schützen, sitzt in kleinen Gemächern zu¬
sammengekauert die Familie des Haemal (Lastträgers), des Kaikschi (Kahn-
sührers), des Lohnarbeiters und ärmeren Handwerkers -- ohne Feuerung, auch
ohne ein wärmendes Kohlenbecken, welches sonst dort nirgends fehlte, dessen
Unterhaltung aber gegenwärtig der "kleine Mann" nicht mehr erschwingen
kann. Da jeder seine Ausgaben beschränkt und auch die Wohlhabenden sich
veranlaßt sehen, Ersparnisse zu machen, so mindert sich natürlich der Verdienst
der untern Classen. Dazu kommt, daß die Münze (Papiergeld) zwar um vieles
schlechter geworden ist, wie vor zwei und drei Jahren (um volle zwölf Procent),
dagegen die Lohne nicht gestiegen sind; und daß der Preis aller Lebensbedürf¬
nisse und besonders der unentbehrlichen/ mit jeder Woche zunimmt.

Man Hort dann reden: im nächsten Frühjahr würden mehre Eisenbahn¬
linien in Angriff geno.innen werden, namentlich der wichtige Strang, welcher
dereinst Belgrad mit Konstantinopel verbinden, und über Rissa, Sofia, Phi¬
lippopel und Adrianopel laufen wird. An Arbeitern wjrd es dazu nicht
mangeln; allein diese Hauptstadt würde im jetzigen Augenblick 30,000 davon
aufbringen können.

Mit grvßrem Eifer noch läßt man sich die Herstellung einer telegraphischen
Verbindung zwischen dem Bosporus und dem mitteleuropäischen Telegraphen¬
netz angelegen sein. Zu dem Zweck waren zwei Routen einzuschlagen: die eine
über Adrianopel, Varna und Silistria oder Nustschuk nach Bukarest und von
da nach Hermanstadt (letztere Station ist bereits vollendet); die andere, ebenfalls
über Adrianopel, aber von da nach Philippopel sich abzweigend und über
Sofia, Therkoj und Rissa nach Belgrad laufend. Man hat beide zugleich
einzurichten begonnen und zwar wird man hoffentlich bis Ostern damit zu¬
standegekommen sein. Es wird alsdann möglich sein, Nachrichten aus Stambul,
in vierundzwanzig Stunden (längstens!) nach Leipzig zu befördern; mit andern
Worten: die Türkei wird sodann nicht mehr als ein fernes und von dem
übrigen Europa abgeschiednes Land zu betrachten sein.

Wie wichtig auch immerhin dieser Eintritt der europäisch-türkischen Länder
in das große telegraphische Netz unsres Erdtheils sein mag: die Vollendung
einer ersten, von der Donau bis zum Bosporus reichenden Eisenbahnlinie
würde noch viel wichtiger sein. Man muß sich in der That wundern, daß
seither zur Zustandbringung, ja auch nur zur Einleitung dieses Unternehmens
noch soviel wie nichts geschehen ist, und erst in den letzten Tagen ein mit
dem Beginn des Krieges zur Seite gelegtes Project sichtlich wieder auftaucht.
Die Bahn von Belgrad nach Stambul würde im Anfang vielleicht eine nur
mäßige Rente abwerfen: aber im weitern Verlauf ihrer Wirksamkeit und nament¬
lich nachdem eine Bahn von Konstantinopel nach Bagdad und Bassora sich
ihr angeschlossen, "würde sie eine der fruchtbringendsten Linien sein, die jemals


Grenzboten. I. iMll. 29

eingedeckt sind, um gegen Regen zu schützen, sitzt in kleinen Gemächern zu¬
sammengekauert die Familie des Haemal (Lastträgers), des Kaikschi (Kahn-
sührers), des Lohnarbeiters und ärmeren Handwerkers — ohne Feuerung, auch
ohne ein wärmendes Kohlenbecken, welches sonst dort nirgends fehlte, dessen
Unterhaltung aber gegenwärtig der „kleine Mann" nicht mehr erschwingen
kann. Da jeder seine Ausgaben beschränkt und auch die Wohlhabenden sich
veranlaßt sehen, Ersparnisse zu machen, so mindert sich natürlich der Verdienst
der untern Classen. Dazu kommt, daß die Münze (Papiergeld) zwar um vieles
schlechter geworden ist, wie vor zwei und drei Jahren (um volle zwölf Procent),
dagegen die Lohne nicht gestiegen sind; und daß der Preis aller Lebensbedürf¬
nisse und besonders der unentbehrlichen/ mit jeder Woche zunimmt.

Man Hort dann reden: im nächsten Frühjahr würden mehre Eisenbahn¬
linien in Angriff geno.innen werden, namentlich der wichtige Strang, welcher
dereinst Belgrad mit Konstantinopel verbinden, und über Rissa, Sofia, Phi¬
lippopel und Adrianopel laufen wird. An Arbeitern wjrd es dazu nicht
mangeln; allein diese Hauptstadt würde im jetzigen Augenblick 30,000 davon
aufbringen können.

Mit grvßrem Eifer noch läßt man sich die Herstellung einer telegraphischen
Verbindung zwischen dem Bosporus und dem mitteleuropäischen Telegraphen¬
netz angelegen sein. Zu dem Zweck waren zwei Routen einzuschlagen: die eine
über Adrianopel, Varna und Silistria oder Nustschuk nach Bukarest und von
da nach Hermanstadt (letztere Station ist bereits vollendet); die andere, ebenfalls
über Adrianopel, aber von da nach Philippopel sich abzweigend und über
Sofia, Therkoj und Rissa nach Belgrad laufend. Man hat beide zugleich
einzurichten begonnen und zwar wird man hoffentlich bis Ostern damit zu¬
standegekommen sein. Es wird alsdann möglich sein, Nachrichten aus Stambul,
in vierundzwanzig Stunden (längstens!) nach Leipzig zu befördern; mit andern
Worten: die Türkei wird sodann nicht mehr als ein fernes und von dem
übrigen Europa abgeschiednes Land zu betrachten sein.

Wie wichtig auch immerhin dieser Eintritt der europäisch-türkischen Länder
in das große telegraphische Netz unsres Erdtheils sein mag: die Vollendung
einer ersten, von der Donau bis zum Bosporus reichenden Eisenbahnlinie
würde noch viel wichtiger sein. Man muß sich in der That wundern, daß
seither zur Zustandbringung, ja auch nur zur Einleitung dieses Unternehmens
noch soviel wie nichts geschehen ist, und erst in den letzten Tagen ein mit
dem Beginn des Krieges zur Seite gelegtes Project sichtlich wieder auftaucht.
Die Bahn von Belgrad nach Stambul würde im Anfang vielleicht eine nur
mäßige Rente abwerfen: aber im weitern Verlauf ihrer Wirksamkeit und nament¬
lich nachdem eine Bahn von Konstantinopel nach Bagdad und Bassora sich
ihr angeschlossen, «würde sie eine der fruchtbringendsten Linien sein, die jemals


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[0233] eingedeckt sind, um gegen Regen zu schützen, sitzt in kleinen Gemächern zu¬ sammengekauert die Familie des Haemal (Lastträgers), des Kaikschi (Kahn- sührers), des Lohnarbeiters und ärmeren Handwerkers — ohne Feuerung, auch ohne ein wärmendes Kohlenbecken, welches sonst dort nirgends fehlte, dessen Unterhaltung aber gegenwärtig der „kleine Mann" nicht mehr erschwingen kann. Da jeder seine Ausgaben beschränkt und auch die Wohlhabenden sich veranlaßt sehen, Ersparnisse zu machen, so mindert sich natürlich der Verdienst der untern Classen. Dazu kommt, daß die Münze (Papiergeld) zwar um vieles schlechter geworden ist, wie vor zwei und drei Jahren (um volle zwölf Procent), dagegen die Lohne nicht gestiegen sind; und daß der Preis aller Lebensbedürf¬ nisse und besonders der unentbehrlichen/ mit jeder Woche zunimmt. Man Hort dann reden: im nächsten Frühjahr würden mehre Eisenbahn¬ linien in Angriff geno.innen werden, namentlich der wichtige Strang, welcher dereinst Belgrad mit Konstantinopel verbinden, und über Rissa, Sofia, Phi¬ lippopel und Adrianopel laufen wird. An Arbeitern wjrd es dazu nicht mangeln; allein diese Hauptstadt würde im jetzigen Augenblick 30,000 davon aufbringen können. Mit grvßrem Eifer noch läßt man sich die Herstellung einer telegraphischen Verbindung zwischen dem Bosporus und dem mitteleuropäischen Telegraphen¬ netz angelegen sein. Zu dem Zweck waren zwei Routen einzuschlagen: die eine über Adrianopel, Varna und Silistria oder Nustschuk nach Bukarest und von da nach Hermanstadt (letztere Station ist bereits vollendet); die andere, ebenfalls über Adrianopel, aber von da nach Philippopel sich abzweigend und über Sofia, Therkoj und Rissa nach Belgrad laufend. Man hat beide zugleich einzurichten begonnen und zwar wird man hoffentlich bis Ostern damit zu¬ standegekommen sein. Es wird alsdann möglich sein, Nachrichten aus Stambul, in vierundzwanzig Stunden (längstens!) nach Leipzig zu befördern; mit andern Worten: die Türkei wird sodann nicht mehr als ein fernes und von dem übrigen Europa abgeschiednes Land zu betrachten sein. Wie wichtig auch immerhin dieser Eintritt der europäisch-türkischen Länder in das große telegraphische Netz unsres Erdtheils sein mag: die Vollendung einer ersten, von der Donau bis zum Bosporus reichenden Eisenbahnlinie würde noch viel wichtiger sein. Man muß sich in der That wundern, daß seither zur Zustandbringung, ja auch nur zur Einleitung dieses Unternehmens noch soviel wie nichts geschehen ist, und erst in den letzten Tagen ein mit dem Beginn des Krieges zur Seite gelegtes Project sichtlich wieder auftaucht. Die Bahn von Belgrad nach Stambul würde im Anfang vielleicht eine nur mäßige Rente abwerfen: aber im weitern Verlauf ihrer Wirksamkeit und nament¬ lich nachdem eine Bahn von Konstantinopel nach Bagdad und Bassora sich ihr angeschlossen, «würde sie eine der fruchtbringendsten Linien sein, die jemals Grenzboten. I. iMll. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/233>, abgerufen am 17.06.2024.