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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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und Manchester, daß man nach Jahren in den Oestreichem viel gefährlichere
commercielle Nebenbuhler wie in den Franzosen haben werde.

Ich wollte nicht unterlassen Sie auf diese Verhältnisse aufmerksam zu machen,
zumal dieselben berufen zu sein scheinen, demnächst mehr maßgebend in den
Vordergrund zu treten. Wenn ein Frieden mit Rußland zustandekommt,
dürfte man, bei Arrangirung der türkischen Verhältnisse, wie vorher im Kriege
so auch unter veränderten Umständen, Frankreich und England zusammen¬
wirken sehen für ein und denselben Zweck, nämlich den: die Mittelmeerküsten
im Gegensatz zum Stromlauf der Donau, zum Ausgang der demnächstigen
neu zu schaffenden Verbindungswege zu machen.

Als Ihr Berichterstatter heute am frühen Morgen ans Fenster trat und die
Vorhänge zurückschlug, war er überrascht, die ganze Umgegend seiner Wohnung
soweit das Auge reichte mit Schnee bedeckt zu sehen. Wie ein finsterer, blau¬
grauer Streifen breiteten sich der Bosporus und das Marmorameer zwischen
die weiten, wellenförmigen, riesigen Flächen hin; kaum daß man über den¬
selben die höher ragenden Gebäude und die scharfen Spitzen der Minarets
unterschied.

Es ist inzwischen Mittag geworden und an dem einförmigen monotonen
Bilde hat sich nichts geändert. Der Himmel ist vom Zenith rings bis zum
Horizont verhangen mit weißgrauem Gewölk und scheint in seinem Falten¬
mantel noch unermeßliche Schneemassen zu bergen; der Wind steht aus Nord;
nur wenige Leute erblickt man auf den Straßen: alle gehüllt in jene schnell
angemessenen Pelze und den Baschlik (Kapuze an den türkischen Mänteln) weit
über den Kopf gezogen; es sind Landleute, die zur Stadt wandern; Fuhr¬
knechte (Arabatschis), Reitknechte (Zeas) und Haemal (Lastträger); Verkäufer
lassen sich nicht sehen; sogar die Hunde, welche sonst Tag und Nacht auf der
Gasse liegen, sind verschwunden und heulen nur in der Ferne aus verschiedenen
Kellerlöchern, in die sie sich verkrochen, hervor. Dann und wann flattert ein
Geier in der Höhe des Daches mit ausgebreiteten Schwingen vorüber; es ist
eine nordisch winterliche Scene. Nur das Thermometer entspricht ihr nicht
ganz, denn es ist noch nicht tief unter den Gefrierpunkt gefallen.

Ich will den Tag, der wenig zum Ausgehen einladet, dazu verwenden,
um die magern Briefe zu ergänzen, welche ich Ihnen in der vergangenen Woche
geschrieben. Eine nachträgliche Weihnachtsbeschreibung werden Sie nicht von
mir erwarten;, dagegen würde ich eS nicht zu rechtfertigen vermögen, wenn
ich eine wichtige Neuerung, mit der das neue Jahr die hiesige Frankenbevölkerung
bescheert hat, unerwähnt lassen wollte: mit dem ersten Januar hat Konstantinopel
ein zweites großes Blatt in französischer Sprache, die Presse dOrient, erhalten.


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und Manchester, daß man nach Jahren in den Oestreichem viel gefährlichere
commercielle Nebenbuhler wie in den Franzosen haben werde.

Ich wollte nicht unterlassen Sie auf diese Verhältnisse aufmerksam zu machen,
zumal dieselben berufen zu sein scheinen, demnächst mehr maßgebend in den
Vordergrund zu treten. Wenn ein Frieden mit Rußland zustandekommt,
dürfte man, bei Arrangirung der türkischen Verhältnisse, wie vorher im Kriege
so auch unter veränderten Umständen, Frankreich und England zusammen¬
wirken sehen für ein und denselben Zweck, nämlich den: die Mittelmeerküsten
im Gegensatz zum Stromlauf der Donau, zum Ausgang der demnächstigen
neu zu schaffenden Verbindungswege zu machen.

Als Ihr Berichterstatter heute am frühen Morgen ans Fenster trat und die
Vorhänge zurückschlug, war er überrascht, die ganze Umgegend seiner Wohnung
soweit das Auge reichte mit Schnee bedeckt zu sehen. Wie ein finsterer, blau¬
grauer Streifen breiteten sich der Bosporus und das Marmorameer zwischen
die weiten, wellenförmigen, riesigen Flächen hin; kaum daß man über den¬
selben die höher ragenden Gebäude und die scharfen Spitzen der Minarets
unterschied.

Es ist inzwischen Mittag geworden und an dem einförmigen monotonen
Bilde hat sich nichts geändert. Der Himmel ist vom Zenith rings bis zum
Horizont verhangen mit weißgrauem Gewölk und scheint in seinem Falten¬
mantel noch unermeßliche Schneemassen zu bergen; der Wind steht aus Nord;
nur wenige Leute erblickt man auf den Straßen: alle gehüllt in jene schnell
angemessenen Pelze und den Baschlik (Kapuze an den türkischen Mänteln) weit
über den Kopf gezogen; es sind Landleute, die zur Stadt wandern; Fuhr¬
knechte (Arabatschis), Reitknechte (Zeas) und Haemal (Lastträger); Verkäufer
lassen sich nicht sehen; sogar die Hunde, welche sonst Tag und Nacht auf der
Gasse liegen, sind verschwunden und heulen nur in der Ferne aus verschiedenen
Kellerlöchern, in die sie sich verkrochen, hervor. Dann und wann flattert ein
Geier in der Höhe des Daches mit ausgebreiteten Schwingen vorüber; es ist
eine nordisch winterliche Scene. Nur das Thermometer entspricht ihr nicht
ganz, denn es ist noch nicht tief unter den Gefrierpunkt gefallen.

Ich will den Tag, der wenig zum Ausgehen einladet, dazu verwenden,
um die magern Briefe zu ergänzen, welche ich Ihnen in der vergangenen Woche
geschrieben. Eine nachträgliche Weihnachtsbeschreibung werden Sie nicht von
mir erwarten;, dagegen würde ich eS nicht zu rechtfertigen vermögen, wenn
ich eine wichtige Neuerung, mit der das neue Jahr die hiesige Frankenbevölkerung
bescheert hat, unerwähnt lassen wollte: mit dem ersten Januar hat Konstantinopel
ein zweites großes Blatt in französischer Sprache, die Presse dOrient, erhalten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/235>, abgerufen am 17.06.2024.