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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Kampf und ein erhebender Ausgang. Wenn wir drei Stunden lang auf den
Bretern die ernsten Bilder von Menschen sehen sollen, mit fortdauernder Span¬
nung und steigendem Genuß, so ist die erste Bedingung, daß sie sich uns
in einer gewaltigen Bewegung zeigen, als Wollende und Handelnde, im
imponirenden Kampf mit einer überstarken Macht, in einseitiger Befangenheit
fortgetrieben bis zu einem Punkte, wo das Geschick, das durch ihr eignes
Thun hervorgerufen worden ist, ihr Wollen und vielleicht sie selbst ver¬
nichtet. Bei solchem tragischen Kampfe der Charaktere muß der Unter¬
gang der Personen zu gleicher Zeit der Sieg einer großen sittlichen Wahr¬
heit sein. In dem Fechter von Ravenna sind die Mutter und der Sohn die
beiden Gewalten,, welche gegeneinander kämpfen. Aber nur die Mutter hat
Theil an der tragischen Bewegung, der Sohn bleibt von Anfang bis zu Ende
der Mutter gegenüber eine rohe, unbewegliche und starre Masse. Dadurch wird
dem hohen Pathos und der leidenschaftlichen Bewegung Thusneldas die Spitze
abgebochen. VoM ersten bis zum letzten Act ist sie in gesteigertem stürmischen
Drängen gegenüber einem Klotz. Dadurch entsteht eine Monotonie, die nicht
verdeckt werden kann. Der Kampf der Mutter erfüllt uns mit Mitleid, aber
er quält, er erhebt nicht. Daß sie zuletzt den Sohn und sich selbst tödtet, wird
für ein unbefangenes Empfinden nicht erhebender dadurch, daß sie und der Sohn
als Personificationen deutscher Kraft allegorisirt werden, und was Caligula und
die Verschworenen am Schluß darauf ruchlos beschließen, das gibt vollends
keine Erhebung, man sieht in der Handlung nur Elend und Fäulniß, an wel¬
cher ein großer Hlan.elendiglich untergeht.

Allerdings wird diese Schwäche der Handlung durch Halms Behandlung
des Stoffes sehr verdeckt. Wäre sein Charakteristrcn detaillirt, seine Darstel¬
lung realistisch, so würde dieser Grundfehler noch peinlicher hervortreten. Aber
durch das brillante Pathos, durch begeisternde Worte und Perspectiven in die
Zukunft, das heißt durch eine Apellation an den außerhalb des Stückes liegen¬
den wirklichen Verlauf der Weltbegebenheiten, wird bei- dem Publicum eine
Stimmung hervorgebracht, welche bis zu einem gewissen Grade über die
Schwäche der Handlung forthilft. Nur muß gleich hinzugefügt werden, daß
diese Spannung der Zuhörer wieder erreicht wird auf Kosten einer andern Be¬
dingung für die kunstvolle Bühnenwirkung des Dramas, auf Kosten einer ge¬
sunden Charakteristik.

Niemals war sorgfältige Darstellung der Charaktere ein Vorzug von Halms
Dramen. Auch in diesem fehlt die bewußte Sicherheit der schöpferischen
Kraft, welche die einzelnen Aeußerungen des individuellen Lebens zu einer in
sich geschlossenen kunstvollen und doch verständlichen Einheit zu bilden weiß. Mehr
vielleicht als in einem früheren Drama ist dies bei dem Charakter der Thus¬
nelda erstrebt, und eine nicht kleine Anzahl schöner und wahrer menschlicher


Grenzboten. I. 48un. 30

Kampf und ein erhebender Ausgang. Wenn wir drei Stunden lang auf den
Bretern die ernsten Bilder von Menschen sehen sollen, mit fortdauernder Span¬
nung und steigendem Genuß, so ist die erste Bedingung, daß sie sich uns
in einer gewaltigen Bewegung zeigen, als Wollende und Handelnde, im
imponirenden Kampf mit einer überstarken Macht, in einseitiger Befangenheit
fortgetrieben bis zu einem Punkte, wo das Geschick, das durch ihr eignes
Thun hervorgerufen worden ist, ihr Wollen und vielleicht sie selbst ver¬
nichtet. Bei solchem tragischen Kampfe der Charaktere muß der Unter¬
gang der Personen zu gleicher Zeit der Sieg einer großen sittlichen Wahr¬
heit sein. In dem Fechter von Ravenna sind die Mutter und der Sohn die
beiden Gewalten,, welche gegeneinander kämpfen. Aber nur die Mutter hat
Theil an der tragischen Bewegung, der Sohn bleibt von Anfang bis zu Ende
der Mutter gegenüber eine rohe, unbewegliche und starre Masse. Dadurch wird
dem hohen Pathos und der leidenschaftlichen Bewegung Thusneldas die Spitze
abgebochen. VoM ersten bis zum letzten Act ist sie in gesteigertem stürmischen
Drängen gegenüber einem Klotz. Dadurch entsteht eine Monotonie, die nicht
verdeckt werden kann. Der Kampf der Mutter erfüllt uns mit Mitleid, aber
er quält, er erhebt nicht. Daß sie zuletzt den Sohn und sich selbst tödtet, wird
für ein unbefangenes Empfinden nicht erhebender dadurch, daß sie und der Sohn
als Personificationen deutscher Kraft allegorisirt werden, und was Caligula und
die Verschworenen am Schluß darauf ruchlos beschließen, das gibt vollends
keine Erhebung, man sieht in der Handlung nur Elend und Fäulniß, an wel¬
cher ein großer Hlan.elendiglich untergeht.

Allerdings wird diese Schwäche der Handlung durch Halms Behandlung
des Stoffes sehr verdeckt. Wäre sein Charakteristrcn detaillirt, seine Darstel¬
lung realistisch, so würde dieser Grundfehler noch peinlicher hervortreten. Aber
durch das brillante Pathos, durch begeisternde Worte und Perspectiven in die
Zukunft, das heißt durch eine Apellation an den außerhalb des Stückes liegen¬
den wirklichen Verlauf der Weltbegebenheiten, wird bei- dem Publicum eine
Stimmung hervorgebracht, welche bis zu einem gewissen Grade über die
Schwäche der Handlung forthilft. Nur muß gleich hinzugefügt werden, daß
diese Spannung der Zuhörer wieder erreicht wird auf Kosten einer andern Be¬
dingung für die kunstvolle Bühnenwirkung des Dramas, auf Kosten einer ge¬
sunden Charakteristik.

Niemals war sorgfältige Darstellung der Charaktere ein Vorzug von Halms
Dramen. Auch in diesem fehlt die bewußte Sicherheit der schöpferischen
Kraft, welche die einzelnen Aeußerungen des individuellen Lebens zu einer in
sich geschlossenen kunstvollen und doch verständlichen Einheit zu bilden weiß. Mehr
vielleicht als in einem früheren Drama ist dies bei dem Charakter der Thus¬
nelda erstrebt, und eine nicht kleine Anzahl schöner und wahrer menschlicher


Grenzboten. I. 48un. 30
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[0241] Kampf und ein erhebender Ausgang. Wenn wir drei Stunden lang auf den Bretern die ernsten Bilder von Menschen sehen sollen, mit fortdauernder Span¬ nung und steigendem Genuß, so ist die erste Bedingung, daß sie sich uns in einer gewaltigen Bewegung zeigen, als Wollende und Handelnde, im imponirenden Kampf mit einer überstarken Macht, in einseitiger Befangenheit fortgetrieben bis zu einem Punkte, wo das Geschick, das durch ihr eignes Thun hervorgerufen worden ist, ihr Wollen und vielleicht sie selbst ver¬ nichtet. Bei solchem tragischen Kampfe der Charaktere muß der Unter¬ gang der Personen zu gleicher Zeit der Sieg einer großen sittlichen Wahr¬ heit sein. In dem Fechter von Ravenna sind die Mutter und der Sohn die beiden Gewalten,, welche gegeneinander kämpfen. Aber nur die Mutter hat Theil an der tragischen Bewegung, der Sohn bleibt von Anfang bis zu Ende der Mutter gegenüber eine rohe, unbewegliche und starre Masse. Dadurch wird dem hohen Pathos und der leidenschaftlichen Bewegung Thusneldas die Spitze abgebochen. VoM ersten bis zum letzten Act ist sie in gesteigertem stürmischen Drängen gegenüber einem Klotz. Dadurch entsteht eine Monotonie, die nicht verdeckt werden kann. Der Kampf der Mutter erfüllt uns mit Mitleid, aber er quält, er erhebt nicht. Daß sie zuletzt den Sohn und sich selbst tödtet, wird für ein unbefangenes Empfinden nicht erhebender dadurch, daß sie und der Sohn als Personificationen deutscher Kraft allegorisirt werden, und was Caligula und die Verschworenen am Schluß darauf ruchlos beschließen, das gibt vollends keine Erhebung, man sieht in der Handlung nur Elend und Fäulniß, an wel¬ cher ein großer Hlan.elendiglich untergeht. Allerdings wird diese Schwäche der Handlung durch Halms Behandlung des Stoffes sehr verdeckt. Wäre sein Charakteristrcn detaillirt, seine Darstel¬ lung realistisch, so würde dieser Grundfehler noch peinlicher hervortreten. Aber durch das brillante Pathos, durch begeisternde Worte und Perspectiven in die Zukunft, das heißt durch eine Apellation an den außerhalb des Stückes liegen¬ den wirklichen Verlauf der Weltbegebenheiten, wird bei- dem Publicum eine Stimmung hervorgebracht, welche bis zu einem gewissen Grade über die Schwäche der Handlung forthilft. Nur muß gleich hinzugefügt werden, daß diese Spannung der Zuhörer wieder erreicht wird auf Kosten einer andern Be¬ dingung für die kunstvolle Bühnenwirkung des Dramas, auf Kosten einer ge¬ sunden Charakteristik. Niemals war sorgfältige Darstellung der Charaktere ein Vorzug von Halms Dramen. Auch in diesem fehlt die bewußte Sicherheit der schöpferischen Kraft, welche die einzelnen Aeußerungen des individuellen Lebens zu einer in sich geschlossenen kunstvollen und doch verständlichen Einheit zu bilden weiß. Mehr vielleicht als in einem früheren Drama ist dies bei dem Charakter der Thus¬ nelda erstrebt, und eine nicht kleine Anzahl schöner und wahrer menschlicher Grenzboten. I. 48un. 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/241>, abgerufen am 17.06.2024.