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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Züge finden sich hier vereinigt. Aber grade diesen Charakter hat sich der Dichter
selbst dadurch aus der Form gezogen , daß er dem Weib des Cheruskerfürsten
das gebildete Bewußtsein einer ZuHörerin der Paulskirche gegeben hat. Alle
die Schlag- und Stichwörter unsrer Zeit kommen bis zum Uebermaß darin
vor. Auch dem naiven Zuschauer mag leicht des Guten zuviel werden. Thus-
neldas Reflexionen über deutsches Gemüth, über die politischen Tugenden und
Fehler unsrer Nation, wie sie nach dem Lauf von zwei Jcchrtauscnven uns
allen verständlich geworden sind, moderne Phrasen wie das "Zu spät", und
zuletzt ihr Auftreten als personificirte Germania lösen den Charakter aus in
eine Allegorie; in eine oft schöne und poetisch ausgeführte Allegorie, das ist
wahr, aber doch in ein erkältendes Spiel des rechnenden Verstandes. Es ist
kein schlechtes Zeichen für den sittlichen Ernst, mit dem der Deutsche gegen¬
wärtig seine politische Lage ansteht, wenn die glorreichen Phrasen darüber in
einem Theaterstück ihn an manchen Orten in Norddeutschland verstimmten. --
Bei dem Charakter des Thumelicus fehlte dem Dichter die Gelegenheit zu poetischer
Rhetorik vollständig, und deshalb tritt die Schwäche der Gestaltung am peinlichsten
hervor. Wenn er fast überall von mittelmäßigen Darstellern mittelmäßig gegeben
ist, so ist das durchaus nicht allein Schuld der Schauspieler. Es war an sich ein
schöner Vorwurf, dem hohen Sinn der deutschen Fürstin das rohe Behagen sinn¬
licher Kraft gegenüberzustellen. Aber die Schilderung des Charakters ist arm, ja sie
erscheint ihrer Lückenhaftigkeit wegen unwahr. Deshalb, weil Thumelicus als
Gladiator erzogen worden ist, muß er noch nicht nothwendig ohne Empfänglichkeit
für die Aussichten sein, welche ihm Thusnelda und Merowig bieten. Das stolze
Rom hat vor seinen Gladiatoren und Sklaven in einem furchtbaren Kriege ge¬
zittert, und ein Kriegsfürst zu werd.en, ein Führer großer Scharen, ein Er¬
oberer, der vielleicht sich selbst auf den Kaiserstuhl setzt, der jedenfalls den besten
Wein, die theuersten Waffen, die schönsten Mädchen gewinnt, das wird für
einen Fechter vom Handwerk, der noch jung ist, von tollem Muth und über¬
sprudelnder Lebenskraft, ebensoviel Verführerisches haben, als für eine edler
erzogene und höher organisirte Natur. Daß ferner ein Gladiator gar keine
Ahnung von dem Ehrlosen seines Handwerks hat und gar keine Aufwallung,
diesen Beruf mit einem andern zu vertauschen, ist ebenfalls eine willkürliche
Voraussetzung. Und dieser Fechter ist ein Sohn Thusneldas, er erinnert sich
an die Lieder, die ihm.die Mutter in seiner Jugend vorgesungen hat, er muß
also einige, wenn auch verfallene Reminiscenzen an eine Vergangenheit haben,
wo er anders empfand. Deshalb hätte Halm jedenfalls die Unempfänglichkeit
des Thumelicus besser motiviren müssen. -- Aber wenn der Dichter diesen
Charakter dramatisch und für uns genießbar machen wollte,,, so wäre grade seine
Ausgabe gewesen zu zeigen, wie alle diese Erinnerungen, Stimmungen und
Neigungen durch die Mutter in ihm aus der Asche zur Flamme geblasen werden,


Züge finden sich hier vereinigt. Aber grade diesen Charakter hat sich der Dichter
selbst dadurch aus der Form gezogen , daß er dem Weib des Cheruskerfürsten
das gebildete Bewußtsein einer ZuHörerin der Paulskirche gegeben hat. Alle
die Schlag- und Stichwörter unsrer Zeit kommen bis zum Uebermaß darin
vor. Auch dem naiven Zuschauer mag leicht des Guten zuviel werden. Thus-
neldas Reflexionen über deutsches Gemüth, über die politischen Tugenden und
Fehler unsrer Nation, wie sie nach dem Lauf von zwei Jcchrtauscnven uns
allen verständlich geworden sind, moderne Phrasen wie das „Zu spät", und
zuletzt ihr Auftreten als personificirte Germania lösen den Charakter aus in
eine Allegorie; in eine oft schöne und poetisch ausgeführte Allegorie, das ist
wahr, aber doch in ein erkältendes Spiel des rechnenden Verstandes. Es ist
kein schlechtes Zeichen für den sittlichen Ernst, mit dem der Deutsche gegen¬
wärtig seine politische Lage ansteht, wenn die glorreichen Phrasen darüber in
einem Theaterstück ihn an manchen Orten in Norddeutschland verstimmten. —
Bei dem Charakter des Thumelicus fehlte dem Dichter die Gelegenheit zu poetischer
Rhetorik vollständig, und deshalb tritt die Schwäche der Gestaltung am peinlichsten
hervor. Wenn er fast überall von mittelmäßigen Darstellern mittelmäßig gegeben
ist, so ist das durchaus nicht allein Schuld der Schauspieler. Es war an sich ein
schöner Vorwurf, dem hohen Sinn der deutschen Fürstin das rohe Behagen sinn¬
licher Kraft gegenüberzustellen. Aber die Schilderung des Charakters ist arm, ja sie
erscheint ihrer Lückenhaftigkeit wegen unwahr. Deshalb, weil Thumelicus als
Gladiator erzogen worden ist, muß er noch nicht nothwendig ohne Empfänglichkeit
für die Aussichten sein, welche ihm Thusnelda und Merowig bieten. Das stolze
Rom hat vor seinen Gladiatoren und Sklaven in einem furchtbaren Kriege ge¬
zittert, und ein Kriegsfürst zu werd.en, ein Führer großer Scharen, ein Er¬
oberer, der vielleicht sich selbst auf den Kaiserstuhl setzt, der jedenfalls den besten
Wein, die theuersten Waffen, die schönsten Mädchen gewinnt, das wird für
einen Fechter vom Handwerk, der noch jung ist, von tollem Muth und über¬
sprudelnder Lebenskraft, ebensoviel Verführerisches haben, als für eine edler
erzogene und höher organisirte Natur. Daß ferner ein Gladiator gar keine
Ahnung von dem Ehrlosen seines Handwerks hat und gar keine Aufwallung,
diesen Beruf mit einem andern zu vertauschen, ist ebenfalls eine willkürliche
Voraussetzung. Und dieser Fechter ist ein Sohn Thusneldas, er erinnert sich
an die Lieder, die ihm.die Mutter in seiner Jugend vorgesungen hat, er muß
also einige, wenn auch verfallene Reminiscenzen an eine Vergangenheit haben,
wo er anders empfand. Deshalb hätte Halm jedenfalls die Unempfänglichkeit
des Thumelicus besser motiviren müssen. — Aber wenn der Dichter diesen
Charakter dramatisch und für uns genießbar machen wollte,,, so wäre grade seine
Ausgabe gewesen zu zeigen, wie alle diese Erinnerungen, Stimmungen und
Neigungen durch die Mutter in ihm aus der Asche zur Flamme geblasen werden,


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[0242] Züge finden sich hier vereinigt. Aber grade diesen Charakter hat sich der Dichter selbst dadurch aus der Form gezogen , daß er dem Weib des Cheruskerfürsten das gebildete Bewußtsein einer ZuHörerin der Paulskirche gegeben hat. Alle die Schlag- und Stichwörter unsrer Zeit kommen bis zum Uebermaß darin vor. Auch dem naiven Zuschauer mag leicht des Guten zuviel werden. Thus- neldas Reflexionen über deutsches Gemüth, über die politischen Tugenden und Fehler unsrer Nation, wie sie nach dem Lauf von zwei Jcchrtauscnven uns allen verständlich geworden sind, moderne Phrasen wie das „Zu spät", und zuletzt ihr Auftreten als personificirte Germania lösen den Charakter aus in eine Allegorie; in eine oft schöne und poetisch ausgeführte Allegorie, das ist wahr, aber doch in ein erkältendes Spiel des rechnenden Verstandes. Es ist kein schlechtes Zeichen für den sittlichen Ernst, mit dem der Deutsche gegen¬ wärtig seine politische Lage ansteht, wenn die glorreichen Phrasen darüber in einem Theaterstück ihn an manchen Orten in Norddeutschland verstimmten. — Bei dem Charakter des Thumelicus fehlte dem Dichter die Gelegenheit zu poetischer Rhetorik vollständig, und deshalb tritt die Schwäche der Gestaltung am peinlichsten hervor. Wenn er fast überall von mittelmäßigen Darstellern mittelmäßig gegeben ist, so ist das durchaus nicht allein Schuld der Schauspieler. Es war an sich ein schöner Vorwurf, dem hohen Sinn der deutschen Fürstin das rohe Behagen sinn¬ licher Kraft gegenüberzustellen. Aber die Schilderung des Charakters ist arm, ja sie erscheint ihrer Lückenhaftigkeit wegen unwahr. Deshalb, weil Thumelicus als Gladiator erzogen worden ist, muß er noch nicht nothwendig ohne Empfänglichkeit für die Aussichten sein, welche ihm Thusnelda und Merowig bieten. Das stolze Rom hat vor seinen Gladiatoren und Sklaven in einem furchtbaren Kriege ge¬ zittert, und ein Kriegsfürst zu werd.en, ein Führer großer Scharen, ein Er¬ oberer, der vielleicht sich selbst auf den Kaiserstuhl setzt, der jedenfalls den besten Wein, die theuersten Waffen, die schönsten Mädchen gewinnt, das wird für einen Fechter vom Handwerk, der noch jung ist, von tollem Muth und über¬ sprudelnder Lebenskraft, ebensoviel Verführerisches haben, als für eine edler erzogene und höher organisirte Natur. Daß ferner ein Gladiator gar keine Ahnung von dem Ehrlosen seines Handwerks hat und gar keine Aufwallung, diesen Beruf mit einem andern zu vertauschen, ist ebenfalls eine willkürliche Voraussetzung. Und dieser Fechter ist ein Sohn Thusneldas, er erinnert sich an die Lieder, die ihm.die Mutter in seiner Jugend vorgesungen hat, er muß also einige, wenn auch verfallene Reminiscenzen an eine Vergangenheit haben, wo er anders empfand. Deshalb hätte Halm jedenfalls die Unempfänglichkeit des Thumelicus besser motiviren müssen. — Aber wenn der Dichter diesen Charakter dramatisch und für uns genießbar machen wollte,,, so wäre grade seine Ausgabe gewesen zu zeigen, wie alle diese Erinnerungen, Stimmungen und Neigungen durch die Mutter in ihm aus der Asche zur Flamme geblasen werden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/242>, abgerufen am 17.06.2024.