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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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und wie sie nur zu schwach sind, um gegen die Gewöhnung seines niedrigen
Lebens zu kräftiger That zu werden. Nicht die Handlung wäre dadurch von
allen Uebelständen befreit worden, wol aber dieser Charakter, und der Gegen¬
satz zwischen Mutter und Sohn hätte dadurch die starre Monotonie verloren,
er wäre in einen wirklich dramatischen Kampf verwandelt worden. Wie Thu-
melicus jetzt der Mutter gegenübersteht, läßt sich nur durch ein Wort aus¬
drücken, er ist ihr gegenüber dumm, während er sonst in Anhänglichkeit, in
Liebe und Haß zweckmäßige menschliche Empfindungen zeigt. Ein Kampf gegen
stumpfe Blödigkeit ist kein tragischer Kampf. Daß der Dichter sowenig mit
diesem Charakter zu machen wußte, lahmt auch den Schauspieler. Findet diese
Rolle aber irgendwo einen Darsteller, der einen ehrlichen, treuherzigen Zug
herausbildet, so kann dem Dichter geschehen, daß daS Mitleid des Publicums
sich übermäßig dem armen Teufel zuwendet, den die Mutter durch ewige
Phrasen quält.*)

Alle übrigen Charaktere des Stücks sind Episoden, in denen ein gewisser
Parallelismus wol zufällig sichtbar wird. Die meisten haben zwei Scenen,
Caligula, Merowig, das Blumenmädchen, Flavius. Im Caligula ist dem Dichter
ein feineres Charakterisiren zugestanden worden, als an den übrigen Figuren sicht¬
bar wird. Es beschränkt sich das aber doch darauf, daß er mit Geschick mehre
der Anekdoten und Sentenzen dieses Unthiers verarbeitet hat, das Uebrige: die
Schilderung seiner krankhaften Geistessprünge, die Furcht vor den Geistern
seiner ermordeten Verwandten, die plötzlichen A'usbrüche von Wuth, das Zu¬
sammensinken, das stille Brüten, das ist sehr wirksam aus der Bühne, aber
dergleichen zu machen ist keine besondere Kunst, und schwerlich wird Halm selbst
seine Arbeit daran für besonders sein halten.

Aber die Dürftigkeit der Charakterzeichnung bei Halm ist dem Publicum
des Theaters nie sehr sichtbar geworden. Ueberhaupt hat der.Deutsche ---
um die Reflexionen Thusneldas über deutsche Art fortzusetzen, -- die Genüg¬
samkeit im Theater wie im Leben, sich leicht in alle Figuren zu finden und
keine zu großen Ansprüche an die Fülle von individuellem Leben der Einzelnen
zu machen. Diese Schwäche unsres Urtheils ist zum großen Theil Folge von
der gemüthlichen Geschäftigkeit unsrer Phantasie, welche uns Personen und
Zustände nur zu leicht so erscheinen läßt, wie wir dieselben wünschen. Unsre
Empfänglichkeit, aus wenigen, ja vielleicht schlecht zusammenstimmenden Ein-,
drücken, welche uns durch einen andern Menschen werden, ein ansprechendes,
uns behagliches Bild desselben für uns zu construiren, ist übermäßig groß.



*) Nebenbei bemerkt, Thumclicus ist kein Name, den. wie Thusnelda klagt, die Römer
dem Sohne Arnims gegeben haben, denn das Wort ist so gut deutsch, wie Singular, Sicgbert,
Siegfried. Althochdeutsch: tlmmo, Daumen; tlnumw, Däumchen; ^Inimilinc, Däumling; we¬
nigstens ist dies die gewöhnliche Erklärung, es ist ein deutscher Spottname.
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und wie sie nur zu schwach sind, um gegen die Gewöhnung seines niedrigen
Lebens zu kräftiger That zu werden. Nicht die Handlung wäre dadurch von
allen Uebelständen befreit worden, wol aber dieser Charakter, und der Gegen¬
satz zwischen Mutter und Sohn hätte dadurch die starre Monotonie verloren,
er wäre in einen wirklich dramatischen Kampf verwandelt worden. Wie Thu-
melicus jetzt der Mutter gegenübersteht, läßt sich nur durch ein Wort aus¬
drücken, er ist ihr gegenüber dumm, während er sonst in Anhänglichkeit, in
Liebe und Haß zweckmäßige menschliche Empfindungen zeigt. Ein Kampf gegen
stumpfe Blödigkeit ist kein tragischer Kampf. Daß der Dichter sowenig mit
diesem Charakter zu machen wußte, lahmt auch den Schauspieler. Findet diese
Rolle aber irgendwo einen Darsteller, der einen ehrlichen, treuherzigen Zug
herausbildet, so kann dem Dichter geschehen, daß daS Mitleid des Publicums
sich übermäßig dem armen Teufel zuwendet, den die Mutter durch ewige
Phrasen quält.*)

Alle übrigen Charaktere des Stücks sind Episoden, in denen ein gewisser
Parallelismus wol zufällig sichtbar wird. Die meisten haben zwei Scenen,
Caligula, Merowig, das Blumenmädchen, Flavius. Im Caligula ist dem Dichter
ein feineres Charakterisiren zugestanden worden, als an den übrigen Figuren sicht¬
bar wird. Es beschränkt sich das aber doch darauf, daß er mit Geschick mehre
der Anekdoten und Sentenzen dieses Unthiers verarbeitet hat, das Uebrige: die
Schilderung seiner krankhaften Geistessprünge, die Furcht vor den Geistern
seiner ermordeten Verwandten, die plötzlichen A'usbrüche von Wuth, das Zu¬
sammensinken, das stille Brüten, das ist sehr wirksam aus der Bühne, aber
dergleichen zu machen ist keine besondere Kunst, und schwerlich wird Halm selbst
seine Arbeit daran für besonders sein halten.

Aber die Dürftigkeit der Charakterzeichnung bei Halm ist dem Publicum
des Theaters nie sehr sichtbar geworden. Ueberhaupt hat der.Deutsche —-
um die Reflexionen Thusneldas über deutsche Art fortzusetzen, — die Genüg¬
samkeit im Theater wie im Leben, sich leicht in alle Figuren zu finden und
keine zu großen Ansprüche an die Fülle von individuellem Leben der Einzelnen
zu machen. Diese Schwäche unsres Urtheils ist zum großen Theil Folge von
der gemüthlichen Geschäftigkeit unsrer Phantasie, welche uns Personen und
Zustände nur zu leicht so erscheinen läßt, wie wir dieselben wünschen. Unsre
Empfänglichkeit, aus wenigen, ja vielleicht schlecht zusammenstimmenden Ein-,
drücken, welche uns durch einen andern Menschen werden, ein ansprechendes,
uns behagliches Bild desselben für uns zu construiren, ist übermäßig groß.



*) Nebenbei bemerkt, Thumclicus ist kein Name, den. wie Thusnelda klagt, die Römer
dem Sohne Arnims gegeben haben, denn das Wort ist so gut deutsch, wie Singular, Sicgbert,
Siegfried. Althochdeutsch: tlmmo, Daumen; tlnumw, Däumchen; ^Inimilinc, Däumling; we¬
nigstens ist dies die gewöhnliche Erklärung, es ist ein deutscher Spottname.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/243>, abgerufen am 17.06.2024.