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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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hier vereinigt, um sich zu zerstreuen und das Leben angenehm zu machen. . .
Man entreißt sich mit Gewalt seinen eignen Gedanken, und wie ist es möglich,
bei dieser beständigen geistigen Spannung und diesem Freudenrausche schwarz
zu sehen." Und ein andres Mal: "Dieses große Volk gibt sich ganz dem Ver¬
gnügen hin; Tänze, Schauspiele, und die Frauen, die schönsten, die es auf
der Welt gibt, spielen hier die Hauptrolle; der. Wohlstand, der Lurus, der
gute Ton haben sich wieder eingestellt. Man denkt an die Schreckenszeit nur
noch wie an einen Traum zurück." Aber mitten in den aufregenden Zerstreu¬
ungen des hauptstädtischen Lebens bemächtigt sich des nach würdigerer Be¬
schäftigung strebenden Geistes eine tiefe Melancholie: "Ich hänge sehr wenig
am Leben," heißt es in einem Briefe vom 2. August; "seine Erhaltung macht
mir keinen großen Kummer und ich befinde mich beständig in derselben Stim¬
mung wie am Vorabend einer Schlacht; mein Gefühl führt mich zur Ueber¬
zeugung, daß, wenn man vom alles beendenden Tod rings umgeben ist, Sorge
um das Leben tragen Unsinn heißt. Alles cheißt mich das Schicksal heraus¬
fordern, und wenn das so fortgeht, so werde ich zuletzt nicht einmal mehr aus¬
weichen, wenn ein Wagen vorüberfährt." Kurz nach diesem Briefe gab die
schon früher erwähnte Ernennung Bonapartes zum Mitglied der topographischen
Abtheilung des Wohlfahrtsausschusses dem jungen General mehr Beschäftigung.
Die Ereignisse bei der Armee am Rheine und in Italien, die bevorstehende
Durchführung der Directorialverfassung, die Gährung im Innern und nament¬
lich in Paris, wo die Sectionen sich zum Aufstand vorbereiteten, nahmen seine
ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und es ist in den nächsten Briefen fast aus¬
schließlich von Politik, nur äußerst selten von Familienangelegenheiten die Rede.
Ueber die große Krisis vom -13. Vendemiaire, den Ausgangspunkt von Na¬
poleons erstaunlicher Glückslaufbahn, berichtet er an Joseph mit fast trockner
Kürze: "Endlich ist alles vorüber; meine erste Regung ist Dir schreiben. Die
Royalisten, die sich in' Sectionen gebildet hatten, wurden mit jedem Tage
trotziger; der Convent hat die Entwaffnung der Section Lepelletier befohlen;
sie hat die Truppen zurückgeworfen; Menou, welcher befehligte, spielte, wie man
sagt, den Verräther; er ist auf der Stelle abgesetzt worden. Der Convent hat
Barras zum Oberbefehlshaber der bewaffneten Macht ernannt; die Ausschüsse
haben mich als zweiten Befehlshaber beigefügt. Wir stellten unsre Truppen
auf; die Feinde griffen uns in den Tuilerien an; wir tödteten ihnen viele
Leute; wir verloren 30 Mann an Todten und 60 Verwundete; wir haben die
Sectionen entwaffnet und alles ist ruhig. Wie gewöhnlich bin ich ganz un¬
verletzt." Als zweiter Befehlshaber des Innern und Divisionsgeneral der Ar¬
tillerie nahm Napoleon jetzt eine wichtige und einträgliche Stellung ein, und
er läßt sie reichlich seiner Familie zugutekommen. Er verschafft mehren seiner
Verwandten Anstellungen, ernennt Ludwig zu seinem Adjutanten, Lucian zum


hier vereinigt, um sich zu zerstreuen und das Leben angenehm zu machen. . .
Man entreißt sich mit Gewalt seinen eignen Gedanken, und wie ist es möglich,
bei dieser beständigen geistigen Spannung und diesem Freudenrausche schwarz
zu sehen." Und ein andres Mal: „Dieses große Volk gibt sich ganz dem Ver¬
gnügen hin; Tänze, Schauspiele, und die Frauen, die schönsten, die es auf
der Welt gibt, spielen hier die Hauptrolle; der. Wohlstand, der Lurus, der
gute Ton haben sich wieder eingestellt. Man denkt an die Schreckenszeit nur
noch wie an einen Traum zurück." Aber mitten in den aufregenden Zerstreu¬
ungen des hauptstädtischen Lebens bemächtigt sich des nach würdigerer Be¬
schäftigung strebenden Geistes eine tiefe Melancholie: „Ich hänge sehr wenig
am Leben," heißt es in einem Briefe vom 2. August; „seine Erhaltung macht
mir keinen großen Kummer und ich befinde mich beständig in derselben Stim¬
mung wie am Vorabend einer Schlacht; mein Gefühl führt mich zur Ueber¬
zeugung, daß, wenn man vom alles beendenden Tod rings umgeben ist, Sorge
um das Leben tragen Unsinn heißt. Alles cheißt mich das Schicksal heraus¬
fordern, und wenn das so fortgeht, so werde ich zuletzt nicht einmal mehr aus¬
weichen, wenn ein Wagen vorüberfährt." Kurz nach diesem Briefe gab die
schon früher erwähnte Ernennung Bonapartes zum Mitglied der topographischen
Abtheilung des Wohlfahrtsausschusses dem jungen General mehr Beschäftigung.
Die Ereignisse bei der Armee am Rheine und in Italien, die bevorstehende
Durchführung der Directorialverfassung, die Gährung im Innern und nament¬
lich in Paris, wo die Sectionen sich zum Aufstand vorbereiteten, nahmen seine
ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und es ist in den nächsten Briefen fast aus¬
schließlich von Politik, nur äußerst selten von Familienangelegenheiten die Rede.
Ueber die große Krisis vom -13. Vendemiaire, den Ausgangspunkt von Na¬
poleons erstaunlicher Glückslaufbahn, berichtet er an Joseph mit fast trockner
Kürze: „Endlich ist alles vorüber; meine erste Regung ist Dir schreiben. Die
Royalisten, die sich in' Sectionen gebildet hatten, wurden mit jedem Tage
trotziger; der Convent hat die Entwaffnung der Section Lepelletier befohlen;
sie hat die Truppen zurückgeworfen; Menou, welcher befehligte, spielte, wie man
sagt, den Verräther; er ist auf der Stelle abgesetzt worden. Der Convent hat
Barras zum Oberbefehlshaber der bewaffneten Macht ernannt; die Ausschüsse
haben mich als zweiten Befehlshaber beigefügt. Wir stellten unsre Truppen
auf; die Feinde griffen uns in den Tuilerien an; wir tödteten ihnen viele
Leute; wir verloren 30 Mann an Todten und 60 Verwundete; wir haben die
Sectionen entwaffnet und alles ist ruhig. Wie gewöhnlich bin ich ganz un¬
verletzt." Als zweiter Befehlshaber des Innern und Divisionsgeneral der Ar¬
tillerie nahm Napoleon jetzt eine wichtige und einträgliche Stellung ein, und
er läßt sie reichlich seiner Familie zugutekommen. Er verschafft mehren seiner
Verwandten Anstellungen, ernennt Ludwig zu seinem Adjutanten, Lucian zum


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/52>, abgerufen am 17.06.2024.