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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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derselben sind. So kommt es denn, daß das Lied aus seiner Sphäre gerissen
zu einem Mittel virtuosenhafter Koketterie herabgewürdigt, das Publicum aber
immer mehr gewöhnt wird, recht Vielerlei und Verschiedenes durcheinander zu
hören und sich Geschmack und Urtheil daran zu verderben.

Die Aufzählung der einzelnen Gesangsleistungen zeigt schon, daß für die
Aufführung größerer Gcsangscompositionen kein Platz war. Nur in einem ein¬
zigen Concert von zehn kamen dergleichen zur Aufführung, am 2. November
(einer Art Vorfeier von Mendelssohns Todestag), die ersten Sätze des Mozart-
schen Requiem bis nach dem Lacrymvsa, Mendelssohns hinterlassene Chöre aus
dem unvollendeten Christus und sein Lauda Sion. Die Ausführung war im
ganzen sehr gut und ließ es umsomehr bedauern, daß diese Kräfte nicht öfter
zu Aufführungen verwandt werden, wie sie des Abonnementconcerts würdig
wären. Die Chöre aus Christus waren sehr interessant, sie sind ganz Men-
dclssohnisch und bezeugen, daß dies Oratorium, wenn es vollendet worden
wäre, zwar schwerlich neue und eigne Bahnen eingeschlagen, aber sich würdig
an seine großen Werke angeschlossen hätte, denen doch unsre Zeit nicht viel an
die Seite zu stellen hat. Besonders schön, klar und wohlthuend ist der Chor
"Es wird ein Stern aus Jakob ausgehen", dem sich der Choral "Wie schon
leuchtet der Morgenstern" anschließt. Die Scenen der Kreuzigung stehen ähn¬
lichen Momenten, namentlich des Paulus, an Kraft und Frische vielleicht nach;
auch-gereicht es ihnen zum Nachtheil, daß man an die Bachsche Passion zu
denken gewissermaßen gezwungen wird. Auffallend aber durch seine Farblosig-
keit ist das Terzett der drei. Könige aus Morgenland, freilich recht freundliche
Musik, aber ohne alle eigenthümliche Charakteristik -- eine um so wunderba¬
rere Erscheinung, wenn man bedenkt, zu wie glänzenden Darstellungen die Ma¬
lerei durch, die Anbetung der heiligen drei Könige veranlaßt worden ist. Das
Lauda Sion darf man wol für eine der schwächsten Leistungen Mendelssohns
erklären, dessen Aufführung besser unterblieben wäre; umsomehr, da dies Con¬
cert so überreich ausgestattet war, daß es, selbst wenn das Lauda Sion fort¬
geblieben wäre, die genügende Länge behalten hätte. Auch der Festgesang an
die Künstler für Männerstimmen mit Blechinstrumenten in einem späteren Con¬
cert war keine glückliche Wahl, wo so wenig bedeutende Sachen zur Auffüh¬
rung kommen. An und für sich steht es unter Mendelssohns Compositionen
nicht sehr hoch und ist offenbar auf einen sehr starken Chor und ein sehr
großes Local berechnet- um zu rechter Wirkung zu gelangen.

Ziehen wir die Summe dieser Betrachtungen, Unverkennbar ist das Or¬
chester wieder auf eine anerkennenswerthe Stufe erhoben und auch in den
übrigen Leistungen mag manches im Verhältniß zu den letzten Jahren sich
gebessert haben. Wiederholen wir aber die Fragen, zu denen wir unsrem Con-
certinstilut gegenüber berechtigt sind:


derselben sind. So kommt es denn, daß das Lied aus seiner Sphäre gerissen
zu einem Mittel virtuosenhafter Koketterie herabgewürdigt, das Publicum aber
immer mehr gewöhnt wird, recht Vielerlei und Verschiedenes durcheinander zu
hören und sich Geschmack und Urtheil daran zu verderben.

Die Aufzählung der einzelnen Gesangsleistungen zeigt schon, daß für die
Aufführung größerer Gcsangscompositionen kein Platz war. Nur in einem ein¬
zigen Concert von zehn kamen dergleichen zur Aufführung, am 2. November
(einer Art Vorfeier von Mendelssohns Todestag), die ersten Sätze des Mozart-
schen Requiem bis nach dem Lacrymvsa, Mendelssohns hinterlassene Chöre aus
dem unvollendeten Christus und sein Lauda Sion. Die Ausführung war im
ganzen sehr gut und ließ es umsomehr bedauern, daß diese Kräfte nicht öfter
zu Aufführungen verwandt werden, wie sie des Abonnementconcerts würdig
wären. Die Chöre aus Christus waren sehr interessant, sie sind ganz Men-
dclssohnisch und bezeugen, daß dies Oratorium, wenn es vollendet worden
wäre, zwar schwerlich neue und eigne Bahnen eingeschlagen, aber sich würdig
an seine großen Werke angeschlossen hätte, denen doch unsre Zeit nicht viel an
die Seite zu stellen hat. Besonders schön, klar und wohlthuend ist der Chor
„Es wird ein Stern aus Jakob ausgehen", dem sich der Choral „Wie schon
leuchtet der Morgenstern" anschließt. Die Scenen der Kreuzigung stehen ähn¬
lichen Momenten, namentlich des Paulus, an Kraft und Frische vielleicht nach;
auch-gereicht es ihnen zum Nachtheil, daß man an die Bachsche Passion zu
denken gewissermaßen gezwungen wird. Auffallend aber durch seine Farblosig-
keit ist das Terzett der drei. Könige aus Morgenland, freilich recht freundliche
Musik, aber ohne alle eigenthümliche Charakteristik — eine um so wunderba¬
rere Erscheinung, wenn man bedenkt, zu wie glänzenden Darstellungen die Ma¬
lerei durch, die Anbetung der heiligen drei Könige veranlaßt worden ist. Das
Lauda Sion darf man wol für eine der schwächsten Leistungen Mendelssohns
erklären, dessen Aufführung besser unterblieben wäre; umsomehr, da dies Con¬
cert so überreich ausgestattet war, daß es, selbst wenn das Lauda Sion fort¬
geblieben wäre, die genügende Länge behalten hätte. Auch der Festgesang an
die Künstler für Männerstimmen mit Blechinstrumenten in einem späteren Con¬
cert war keine glückliche Wahl, wo so wenig bedeutende Sachen zur Auffüh¬
rung kommen. An und für sich steht es unter Mendelssohns Compositionen
nicht sehr hoch und ist offenbar auf einen sehr starken Chor und ein sehr
großes Local berechnet- um zu rechter Wirkung zu gelangen.

Ziehen wir die Summe dieser Betrachtungen, Unverkennbar ist das Or¬
chester wieder auf eine anerkennenswerthe Stufe erhoben und auch in den
übrigen Leistungen mag manches im Verhältniß zu den letzten Jahren sich
gebessert haben. Wiederholen wir aber die Fragen, zu denen wir unsrem Con-
certinstilut gegenüber berechtigt sind:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/74>, abgerufen am 17.06.2024.