Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Kaum gibt es eine Frage, über welche die Urtheile schroffer voneinander
abweichen. Man hat die Vorurtheile des Parteiwesens in sie hineingetragen
und aus diesem Grunde einerseits die Aufgabe überschätzt, andrerseits sie in
einer Weise gering geachtet, die sich ernstlich bestrafen würde, wenn jemals die
Vorkehrungen für ihre Losung aus Grundlage solcher Anschauung getroffen
werden sollten.

Stellen wir hier als Arion eine Behauptung in den Vordergrund unsrer
Betrachtung, für die wir keine Beweise geben, weil ihre Wahrheit kaum an¬
gezweifelt werden dürfte, die nämlich, daß Nußland im Gegensatz zu andern,
minder ausgedehnten und stärker bevölkerten Reichen nicht gleich stark für
Angriff und Vertheidigung auf seinen verschiedenen Fronten ist, und daß unter
diesen sämmtlichen die nach Westen gewendete, vornehmlich aber der rechte
Flügel derselben, welcher im Weichselgebiet Preußen gegenübersteht, diejenige
Linie ist, auf welcher der Zar in verhältnißmäßig kürzester Zeit die bedeutendsten
Streitkräfte zu versammeln vermag, wo überhaupt das russische Reich am besten
vorbereitet ist, um einen offensiven Stoß seines Gegners zurückzuweisen und
endlich, von wo aus es am leichtesten seinerseits zum Angriff gegen Mittel-
und Westeuropa vorzugehen vermöchte.

Diese große russische Fronte zwischen der Moldau und Kurland gliedert
sich nicht nur politisch, in Anbetracht der Gegenlage von Oestreich und Preußen,
in ein Links und Rechts, sondern auch in Hinsicht auf die topographische Be¬
schaffenheit des zunächst rückwärtsliegenden russischen Ländcrcompleres. Wir
reden hier zunächst von der Gebietsmasse, die von dem oberen Stromlauf deö
Dnieper gegen Osten begrenzt und heutzutage unter dem Namen Westrußland
von den Geographen zusammengefaßt wird. Mitten durch sie hindurch läuft
die breite Sumpfregion des Priperz, oder, wie man sie auch nennt, die Pinsker
und Nokilnomoräste, dergestalt, daß von den sieben Gouvernements, welche der
Landstrich einschließt, fünf, nämlich Wilna, Grodno, Witebsk, Mvhilew und
Minsk im Norden der Terrainscheide, und Nolhynien nebst Podolien im Süden
zu liegen kommen.

Der eigentliche Kern des russischen Reichsganzen, Großrußland nämlich,
insbesondere aber die um den Bezirk Moskau zunächstliegenden Gouvernements,
liegen direct hinter dem rechten, Preußen zugewendeten Flügel der Frontlinie;
um Kräfte von dort aus auf das polnische Theater, auf welchem alle Kämpfe
zwischen diesem Staate und Rußland ausgefochten werden müssen, zu werfen,
bedarf es nur eines einfachen Vorschiebens derselben, um sie dagegen nach
Volhynien und Podolien zu führen, wird es nöthig, sie auf gebogener Marsch¬
linie zunächst von Norden nach Süden, um die Sumpflinie herum un.d erst
nachdem der strategische Parallelkreis erreicht worden, geradauö zu führen. Mit
andern Worten heißt das: einen Krieg im großen Stil, d. h. in welchem es


Kaum gibt es eine Frage, über welche die Urtheile schroffer voneinander
abweichen. Man hat die Vorurtheile des Parteiwesens in sie hineingetragen
und aus diesem Grunde einerseits die Aufgabe überschätzt, andrerseits sie in
einer Weise gering geachtet, die sich ernstlich bestrafen würde, wenn jemals die
Vorkehrungen für ihre Losung aus Grundlage solcher Anschauung getroffen
werden sollten.

Stellen wir hier als Arion eine Behauptung in den Vordergrund unsrer
Betrachtung, für die wir keine Beweise geben, weil ihre Wahrheit kaum an¬
gezweifelt werden dürfte, die nämlich, daß Nußland im Gegensatz zu andern,
minder ausgedehnten und stärker bevölkerten Reichen nicht gleich stark für
Angriff und Vertheidigung auf seinen verschiedenen Fronten ist, und daß unter
diesen sämmtlichen die nach Westen gewendete, vornehmlich aber der rechte
Flügel derselben, welcher im Weichselgebiet Preußen gegenübersteht, diejenige
Linie ist, auf welcher der Zar in verhältnißmäßig kürzester Zeit die bedeutendsten
Streitkräfte zu versammeln vermag, wo überhaupt das russische Reich am besten
vorbereitet ist, um einen offensiven Stoß seines Gegners zurückzuweisen und
endlich, von wo aus es am leichtesten seinerseits zum Angriff gegen Mittel-
und Westeuropa vorzugehen vermöchte.

Diese große russische Fronte zwischen der Moldau und Kurland gliedert
sich nicht nur politisch, in Anbetracht der Gegenlage von Oestreich und Preußen,
in ein Links und Rechts, sondern auch in Hinsicht auf die topographische Be¬
schaffenheit des zunächst rückwärtsliegenden russischen Ländcrcompleres. Wir
reden hier zunächst von der Gebietsmasse, die von dem oberen Stromlauf deö
Dnieper gegen Osten begrenzt und heutzutage unter dem Namen Westrußland
von den Geographen zusammengefaßt wird. Mitten durch sie hindurch läuft
die breite Sumpfregion des Priperz, oder, wie man sie auch nennt, die Pinsker
und Nokilnomoräste, dergestalt, daß von den sieben Gouvernements, welche der
Landstrich einschließt, fünf, nämlich Wilna, Grodno, Witebsk, Mvhilew und
Minsk im Norden der Terrainscheide, und Nolhynien nebst Podolien im Süden
zu liegen kommen.

Der eigentliche Kern des russischen Reichsganzen, Großrußland nämlich,
insbesondere aber die um den Bezirk Moskau zunächstliegenden Gouvernements,
liegen direct hinter dem rechten, Preußen zugewendeten Flügel der Frontlinie;
um Kräfte von dort aus auf das polnische Theater, auf welchem alle Kämpfe
zwischen diesem Staate und Rußland ausgefochten werden müssen, zu werfen,
bedarf es nur eines einfachen Vorschiebens derselben, um sie dagegen nach
Volhynien und Podolien zu führen, wird es nöthig, sie auf gebogener Marsch¬
linie zunächst von Norden nach Süden, um die Sumpflinie herum un.d erst
nachdem der strategische Parallelkreis erreicht worden, geradauö zu führen. Mit
andern Worten heißt das: einen Krieg im großen Stil, d. h. in welchem es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0076" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98928"/>
          <p xml:id="ID_233"> Kaum gibt es eine Frage, über welche die Urtheile schroffer voneinander<lb/>
abweichen. Man hat die Vorurtheile des Parteiwesens in sie hineingetragen<lb/>
und aus diesem Grunde einerseits die Aufgabe überschätzt, andrerseits sie in<lb/>
einer Weise gering geachtet, die sich ernstlich bestrafen würde, wenn jemals die<lb/>
Vorkehrungen für ihre Losung aus Grundlage solcher Anschauung getroffen<lb/>
werden sollten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_234"> Stellen wir hier als Arion eine Behauptung in den Vordergrund unsrer<lb/>
Betrachtung, für die wir keine Beweise geben, weil ihre Wahrheit kaum an¬<lb/>
gezweifelt werden dürfte, die nämlich, daß Nußland im Gegensatz zu andern,<lb/>
minder ausgedehnten und stärker bevölkerten Reichen nicht gleich stark für<lb/>
Angriff und Vertheidigung auf seinen verschiedenen Fronten ist, und daß unter<lb/>
diesen sämmtlichen die nach Westen gewendete, vornehmlich aber der rechte<lb/>
Flügel derselben, welcher im Weichselgebiet Preußen gegenübersteht, diejenige<lb/>
Linie ist, auf welcher der Zar in verhältnißmäßig kürzester Zeit die bedeutendsten<lb/>
Streitkräfte zu versammeln vermag, wo überhaupt das russische Reich am besten<lb/>
vorbereitet ist, um einen offensiven Stoß seines Gegners zurückzuweisen und<lb/>
endlich, von wo aus es am leichtesten seinerseits zum Angriff gegen Mittel-<lb/>
und Westeuropa vorzugehen vermöchte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_235"> Diese große russische Fronte zwischen der Moldau und Kurland gliedert<lb/>
sich nicht nur politisch, in Anbetracht der Gegenlage von Oestreich und Preußen,<lb/>
in ein Links und Rechts, sondern auch in Hinsicht auf die topographische Be¬<lb/>
schaffenheit des zunächst rückwärtsliegenden russischen Ländcrcompleres. Wir<lb/>
reden hier zunächst von der Gebietsmasse, die von dem oberen Stromlauf deö<lb/>
Dnieper gegen Osten begrenzt und heutzutage unter dem Namen Westrußland<lb/>
von den Geographen zusammengefaßt wird. Mitten durch sie hindurch läuft<lb/>
die breite Sumpfregion des Priperz, oder, wie man sie auch nennt, die Pinsker<lb/>
und Nokilnomoräste, dergestalt, daß von den sieben Gouvernements, welche der<lb/>
Landstrich einschließt, fünf, nämlich Wilna, Grodno, Witebsk, Mvhilew und<lb/>
Minsk im Norden der Terrainscheide, und Nolhynien nebst Podolien im Süden<lb/>
zu liegen kommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_236" next="#ID_237"> Der eigentliche Kern des russischen Reichsganzen, Großrußland nämlich,<lb/>
insbesondere aber die um den Bezirk Moskau zunächstliegenden Gouvernements,<lb/>
liegen direct hinter dem rechten, Preußen zugewendeten Flügel der Frontlinie;<lb/>
um Kräfte von dort aus auf das polnische Theater, auf welchem alle Kämpfe<lb/>
zwischen diesem Staate und Rußland ausgefochten werden müssen, zu werfen,<lb/>
bedarf es nur eines einfachen Vorschiebens derselben, um sie dagegen nach<lb/>
Volhynien und Podolien zu führen, wird es nöthig, sie auf gebogener Marsch¬<lb/>
linie zunächst von Norden nach Süden, um die Sumpflinie herum un.d erst<lb/>
nachdem der strategische Parallelkreis erreicht worden, geradauö zu führen. Mit<lb/>
andern Worten heißt das: einen Krieg im großen Stil, d. h. in welchem es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0076] Kaum gibt es eine Frage, über welche die Urtheile schroffer voneinander abweichen. Man hat die Vorurtheile des Parteiwesens in sie hineingetragen und aus diesem Grunde einerseits die Aufgabe überschätzt, andrerseits sie in einer Weise gering geachtet, die sich ernstlich bestrafen würde, wenn jemals die Vorkehrungen für ihre Losung aus Grundlage solcher Anschauung getroffen werden sollten. Stellen wir hier als Arion eine Behauptung in den Vordergrund unsrer Betrachtung, für die wir keine Beweise geben, weil ihre Wahrheit kaum an¬ gezweifelt werden dürfte, die nämlich, daß Nußland im Gegensatz zu andern, minder ausgedehnten und stärker bevölkerten Reichen nicht gleich stark für Angriff und Vertheidigung auf seinen verschiedenen Fronten ist, und daß unter diesen sämmtlichen die nach Westen gewendete, vornehmlich aber der rechte Flügel derselben, welcher im Weichselgebiet Preußen gegenübersteht, diejenige Linie ist, auf welcher der Zar in verhältnißmäßig kürzester Zeit die bedeutendsten Streitkräfte zu versammeln vermag, wo überhaupt das russische Reich am besten vorbereitet ist, um einen offensiven Stoß seines Gegners zurückzuweisen und endlich, von wo aus es am leichtesten seinerseits zum Angriff gegen Mittel- und Westeuropa vorzugehen vermöchte. Diese große russische Fronte zwischen der Moldau und Kurland gliedert sich nicht nur politisch, in Anbetracht der Gegenlage von Oestreich und Preußen, in ein Links und Rechts, sondern auch in Hinsicht auf die topographische Be¬ schaffenheit des zunächst rückwärtsliegenden russischen Ländcrcompleres. Wir reden hier zunächst von der Gebietsmasse, die von dem oberen Stromlauf deö Dnieper gegen Osten begrenzt und heutzutage unter dem Namen Westrußland von den Geographen zusammengefaßt wird. Mitten durch sie hindurch läuft die breite Sumpfregion des Priperz, oder, wie man sie auch nennt, die Pinsker und Nokilnomoräste, dergestalt, daß von den sieben Gouvernements, welche der Landstrich einschließt, fünf, nämlich Wilna, Grodno, Witebsk, Mvhilew und Minsk im Norden der Terrainscheide, und Nolhynien nebst Podolien im Süden zu liegen kommen. Der eigentliche Kern des russischen Reichsganzen, Großrußland nämlich, insbesondere aber die um den Bezirk Moskau zunächstliegenden Gouvernements, liegen direct hinter dem rechten, Preußen zugewendeten Flügel der Frontlinie; um Kräfte von dort aus auf das polnische Theater, auf welchem alle Kämpfe zwischen diesem Staate und Rußland ausgefochten werden müssen, zu werfen, bedarf es nur eines einfachen Vorschiebens derselben, um sie dagegen nach Volhynien und Podolien zu führen, wird es nöthig, sie auf gebogener Marsch¬ linie zunächst von Norden nach Süden, um die Sumpflinie herum un.d erst nachdem der strategische Parallelkreis erreicht worden, geradauö zu führen. Mit andern Worten heißt das: einen Krieg im großen Stil, d. h. in welchem es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/76
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/76>, abgerufen am 17.06.2024.