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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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aus schnellen Ersatz der Kräfte, überhaupt auf ein geregeltes Nachschubwesen
ankommt, wird Rußland ungleich befähigter sein gegen Oestreich, wie gegen
Preußen zu bestehen.

Keine Macht hat auf diese ziemlich klar und plan vor aller Blicken da¬
liegenden Verhältnisse größere, kühnere und in die politischen Gestaltungen
Europas tiefer eingreifende Combinationen und Entwürfe zu gründen gewußt,
wie Nußland selbst. Derjenige Flügel seiner großen Mitteleuropa zugewendeten
Fronte, auf welchem es allen Erfahrungen und den bestehenden Umständen
gemäß die meisten militärischen Kräfte zu sammeln vermag, mußte ihm auch
zugleich als der geeignetste Punkt erscheinen, von wo aus praktisch seine herrsch¬
süchtigen Gelüste zu verwirklichen und die entscheidenden Schläge zu führen
seien, die inmitten großer europäischer Krisen seine Suprematie im Herzen des
Welttheils zur vollendeten Thatsache machen sollten. Hierzu trat ein Besitz-
Verhältniß, dessen hoher Werth von den Gegnern Rußlands vorerst viel ver¬
kannt und erst dann richtig gewürdigt worden ist, als diese Macht durch
ein bewunderungswürdig situirtes Befestigungssystem zur Genüge angedeutet
hatte, welches Preises eS dasselbe für würdig erachte. Wir meinen Weichsel¬
polen, oder, wie ein sarmatischer Emigrant sich ausdrücken würde: das Congreß-
königreich.

Man wird sich der Citadellen erinnern, von denen aus man in älteren
Zeiten große und volkreiche Städte, welche äußerten zu Bewegungen gegen
das Gouvernement, geneigt waren, zu beherrschen pflegte. Nun wol, eine solche
Citadelle im Sinne einer Landesbefestigung und mit der Absicht, die beiden
deutschen Großmächte und ihre Entschließungen von dort aus zu dominiren,
ist Nußland geneigt gewesen, aus ganz Polen zu machen.

An und für sich ist diese russische Großprovinz schon auf einem Theil der
nächsten Communicationen gelegen, welche das ostwärtige Oestreich mit der
Osthälfte der preußischen Monarchie verbinden. Da.r Stromlauf der Weichsel,
dieser stärkste und wichtigste Wasserfaden, welcher die Territorien beider deutschen
Hauptmächte in Verbindung setzen könnte, ist dadurch auf einer Strecke von
etwa achzig Meilen unnutzbar gemacht und unterbrochen. Aber ein russischer
Vormarsch, etwa in der Richtung von Kalisch auf Breslau, und dazu bedarf
es nur weniger Tage, nachdem die betreffende Armee concentrirt wäre, würde
Oestreich von Preußen strategisch fast trennen.

Wenn man diese Lage der Dinge in ihrer speciellen Anwendung auf einen
preußisch-östreichischen Kriegsbund, (der uns übrigens für alle Zeiten äußerst
unwahrscheinlich erscheint) unter dem Namen der gemeinsamen Gefahr begreifen
kann, so ist dabei nicht zu vergessen, daß die beso ndere Gefahr für Preußen,
diejenige, welche es allein zu laufen befürchten muß, eine noch viel größere ist.
Darüber sind alle Militärs von Urtheil einig: "ein russischer Marsch mit


aus schnellen Ersatz der Kräfte, überhaupt auf ein geregeltes Nachschubwesen
ankommt, wird Rußland ungleich befähigter sein gegen Oestreich, wie gegen
Preußen zu bestehen.

Keine Macht hat auf diese ziemlich klar und plan vor aller Blicken da¬
liegenden Verhältnisse größere, kühnere und in die politischen Gestaltungen
Europas tiefer eingreifende Combinationen und Entwürfe zu gründen gewußt,
wie Nußland selbst. Derjenige Flügel seiner großen Mitteleuropa zugewendeten
Fronte, auf welchem es allen Erfahrungen und den bestehenden Umständen
gemäß die meisten militärischen Kräfte zu sammeln vermag, mußte ihm auch
zugleich als der geeignetste Punkt erscheinen, von wo aus praktisch seine herrsch¬
süchtigen Gelüste zu verwirklichen und die entscheidenden Schläge zu führen
seien, die inmitten großer europäischer Krisen seine Suprematie im Herzen des
Welttheils zur vollendeten Thatsache machen sollten. Hierzu trat ein Besitz-
Verhältniß, dessen hoher Werth von den Gegnern Rußlands vorerst viel ver¬
kannt und erst dann richtig gewürdigt worden ist, als diese Macht durch
ein bewunderungswürdig situirtes Befestigungssystem zur Genüge angedeutet
hatte, welches Preises eS dasselbe für würdig erachte. Wir meinen Weichsel¬
polen, oder, wie ein sarmatischer Emigrant sich ausdrücken würde: das Congreß-
königreich.

Man wird sich der Citadellen erinnern, von denen aus man in älteren
Zeiten große und volkreiche Städte, welche äußerten zu Bewegungen gegen
das Gouvernement, geneigt waren, zu beherrschen pflegte. Nun wol, eine solche
Citadelle im Sinne einer Landesbefestigung und mit der Absicht, die beiden
deutschen Großmächte und ihre Entschließungen von dort aus zu dominiren,
ist Nußland geneigt gewesen, aus ganz Polen zu machen.

An und für sich ist diese russische Großprovinz schon auf einem Theil der
nächsten Communicationen gelegen, welche das ostwärtige Oestreich mit der
Osthälfte der preußischen Monarchie verbinden. Da.r Stromlauf der Weichsel,
dieser stärkste und wichtigste Wasserfaden, welcher die Territorien beider deutschen
Hauptmächte in Verbindung setzen könnte, ist dadurch auf einer Strecke von
etwa achzig Meilen unnutzbar gemacht und unterbrochen. Aber ein russischer
Vormarsch, etwa in der Richtung von Kalisch auf Breslau, und dazu bedarf
es nur weniger Tage, nachdem die betreffende Armee concentrirt wäre, würde
Oestreich von Preußen strategisch fast trennen.

Wenn man diese Lage der Dinge in ihrer speciellen Anwendung auf einen
preußisch-östreichischen Kriegsbund, (der uns übrigens für alle Zeiten äußerst
unwahrscheinlich erscheint) unter dem Namen der gemeinsamen Gefahr begreifen
kann, so ist dabei nicht zu vergessen, daß die beso ndere Gefahr für Preußen,
diejenige, welche es allein zu laufen befürchten muß, eine noch viel größere ist.
Darüber sind alle Militärs von Urtheil einig: „ein russischer Marsch mit


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[0077] aus schnellen Ersatz der Kräfte, überhaupt auf ein geregeltes Nachschubwesen ankommt, wird Rußland ungleich befähigter sein gegen Oestreich, wie gegen Preußen zu bestehen. Keine Macht hat auf diese ziemlich klar und plan vor aller Blicken da¬ liegenden Verhältnisse größere, kühnere und in die politischen Gestaltungen Europas tiefer eingreifende Combinationen und Entwürfe zu gründen gewußt, wie Nußland selbst. Derjenige Flügel seiner großen Mitteleuropa zugewendeten Fronte, auf welchem es allen Erfahrungen und den bestehenden Umständen gemäß die meisten militärischen Kräfte zu sammeln vermag, mußte ihm auch zugleich als der geeignetste Punkt erscheinen, von wo aus praktisch seine herrsch¬ süchtigen Gelüste zu verwirklichen und die entscheidenden Schläge zu führen seien, die inmitten großer europäischer Krisen seine Suprematie im Herzen des Welttheils zur vollendeten Thatsache machen sollten. Hierzu trat ein Besitz- Verhältniß, dessen hoher Werth von den Gegnern Rußlands vorerst viel ver¬ kannt und erst dann richtig gewürdigt worden ist, als diese Macht durch ein bewunderungswürdig situirtes Befestigungssystem zur Genüge angedeutet hatte, welches Preises eS dasselbe für würdig erachte. Wir meinen Weichsel¬ polen, oder, wie ein sarmatischer Emigrant sich ausdrücken würde: das Congreß- königreich. Man wird sich der Citadellen erinnern, von denen aus man in älteren Zeiten große und volkreiche Städte, welche äußerten zu Bewegungen gegen das Gouvernement, geneigt waren, zu beherrschen pflegte. Nun wol, eine solche Citadelle im Sinne einer Landesbefestigung und mit der Absicht, die beiden deutschen Großmächte und ihre Entschließungen von dort aus zu dominiren, ist Nußland geneigt gewesen, aus ganz Polen zu machen. An und für sich ist diese russische Großprovinz schon auf einem Theil der nächsten Communicationen gelegen, welche das ostwärtige Oestreich mit der Osthälfte der preußischen Monarchie verbinden. Da.r Stromlauf der Weichsel, dieser stärkste und wichtigste Wasserfaden, welcher die Territorien beider deutschen Hauptmächte in Verbindung setzen könnte, ist dadurch auf einer Strecke von etwa achzig Meilen unnutzbar gemacht und unterbrochen. Aber ein russischer Vormarsch, etwa in der Richtung von Kalisch auf Breslau, und dazu bedarf es nur weniger Tage, nachdem die betreffende Armee concentrirt wäre, würde Oestreich von Preußen strategisch fast trennen. Wenn man diese Lage der Dinge in ihrer speciellen Anwendung auf einen preußisch-östreichischen Kriegsbund, (der uns übrigens für alle Zeiten äußerst unwahrscheinlich erscheint) unter dem Namen der gemeinsamen Gefahr begreifen kann, so ist dabei nicht zu vergessen, daß die beso ndere Gefahr für Preußen, diejenige, welche es allein zu laufen befürchten muß, eine noch viel größere ist. Darüber sind alle Militärs von Urtheil einig: „ein russischer Marsch mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/77>, abgerufen am 17.06.2024.