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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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300,000 Mann von Warschau auf Frankfurt an der Oder sprengt die Hohen-
zollernsche MonarchieI"

Wenn jemals Preußen einen Kampf gegen Nußland beginnt, so kann ihm
daher bei demselben füglich kein andrer Gedanke zum Führer seiner Operationen
dienen, als eine Verrückung der preußisch-russischen Grenzen zu erzielen, in
deren Folge im ungünstigsten Falle die Weichsel, im besseren die Boglinie, im
noch günstigeren die Pinsker Sümpfe und der Niemen zur Grenze gewonnen
werden.

Worauf wir hier einen Blick werfen wollen, ist die Frage, wie ein Krieg
behufs einer solchen Landcserweiterung zu führen ist. Es wäre vermessen, dar¬
über mehr als höchstens eine Ansicht aufstellen zu wollen. Umfangreiche und
langjährige Studien des Kriegstheatees allein können zu einem annähernd
competenten Urtheil darüber berechtigen, und wir gestehen gern ein, daß wir
uns seither nicht in der Lage befunden haben, dieselben zu machen, wie oft
uns immerhin auch unsre Wünsche darauf hinführten.

Klar für jedermann wird es sein, wie Preußen einen solchen Kampf mit
guter Aussicht auf Erfolg nicht allein stehend, überhaupt nur bei einer der Ab¬
sicht besonders günstigen Lage der europäischen Verhältnisse, -- vielleicht nur
in der gegenwärtigen Epoche, nicht mehr wenn dieselbe zum Schluß gekommen
ist, und falls Rußland während derselben nicht gedemüthigt und entkräftigt
wurde, unternehmen kann. Nußland, das wiederholen wir, ist in der Lage,
gegen Preußen mehr Kräfte wie gegen irgendeinen andren Staat zur Verwen¬
dung zu bringen: ein Einzelkampf gegen dasselbe ist darum für Preußen aller¬
dings unräthlich, aber um so unausweichlicher wird die Nothwendigkeit eines
Krieges unter den bestehenden, ein Bruch zum nächsten Frühjahr, erfallen.

Insofern hat unsre Frage, wie der Krieg zur Landeserweiterung gegen
Nußland zu führen ist, eine feste politische Basis in den zur Zeit bestehenden
Verhältnissen. Nur unter der Voraussetzung ihres Fortbestandes, nur als Bun¬
deskrieg ist er denkbar. Daß Frankreich und England gleichzeitig gegen Nu߬
land stehen, ist dabei conclito sine qua non, Oestreichs Mitwirkung vermehrt
außerdem die Chancen.

Bräche Preußen in diesem Augenblick mit Rußland, wo Oestreich sich noch
nicht erklärte, so würde der Zar höchstens 200,000 Mann nach Polen zu werfen
vermögen, eine Macht, der wir das Doppelte entgegenstellen könnten, und die
mithin dem Gelingen großer strategischer Schachzüge preisgegeben wäre, zu
denen uns die vorspringende Lage von Ostpreußen die Hand bieten würde.
Es ist unsre Ansicht, daß der Kaiser Nikolaus, auch im Modliner Dreieck*), sich
nicht für stark genug erachten würde, um einer preußischen Umgehung vom



Zwischen den Festungen Neu-Georgicwsk, Sicrock und Prag".

300,000 Mann von Warschau auf Frankfurt an der Oder sprengt die Hohen-
zollernsche MonarchieI"

Wenn jemals Preußen einen Kampf gegen Nußland beginnt, so kann ihm
daher bei demselben füglich kein andrer Gedanke zum Führer seiner Operationen
dienen, als eine Verrückung der preußisch-russischen Grenzen zu erzielen, in
deren Folge im ungünstigsten Falle die Weichsel, im besseren die Boglinie, im
noch günstigeren die Pinsker Sümpfe und der Niemen zur Grenze gewonnen
werden.

Worauf wir hier einen Blick werfen wollen, ist die Frage, wie ein Krieg
behufs einer solchen Landcserweiterung zu führen ist. Es wäre vermessen, dar¬
über mehr als höchstens eine Ansicht aufstellen zu wollen. Umfangreiche und
langjährige Studien des Kriegstheatees allein können zu einem annähernd
competenten Urtheil darüber berechtigen, und wir gestehen gern ein, daß wir
uns seither nicht in der Lage befunden haben, dieselben zu machen, wie oft
uns immerhin auch unsre Wünsche darauf hinführten.

Klar für jedermann wird es sein, wie Preußen einen solchen Kampf mit
guter Aussicht auf Erfolg nicht allein stehend, überhaupt nur bei einer der Ab¬
sicht besonders günstigen Lage der europäischen Verhältnisse, — vielleicht nur
in der gegenwärtigen Epoche, nicht mehr wenn dieselbe zum Schluß gekommen
ist, und falls Rußland während derselben nicht gedemüthigt und entkräftigt
wurde, unternehmen kann. Nußland, das wiederholen wir, ist in der Lage,
gegen Preußen mehr Kräfte wie gegen irgendeinen andren Staat zur Verwen¬
dung zu bringen: ein Einzelkampf gegen dasselbe ist darum für Preußen aller¬
dings unräthlich, aber um so unausweichlicher wird die Nothwendigkeit eines
Krieges unter den bestehenden, ein Bruch zum nächsten Frühjahr, erfallen.

Insofern hat unsre Frage, wie der Krieg zur Landeserweiterung gegen
Nußland zu führen ist, eine feste politische Basis in den zur Zeit bestehenden
Verhältnissen. Nur unter der Voraussetzung ihres Fortbestandes, nur als Bun¬
deskrieg ist er denkbar. Daß Frankreich und England gleichzeitig gegen Nu߬
land stehen, ist dabei conclito sine qua non, Oestreichs Mitwirkung vermehrt
außerdem die Chancen.

Bräche Preußen in diesem Augenblick mit Rußland, wo Oestreich sich noch
nicht erklärte, so würde der Zar höchstens 200,000 Mann nach Polen zu werfen
vermögen, eine Macht, der wir das Doppelte entgegenstellen könnten, und die
mithin dem Gelingen großer strategischer Schachzüge preisgegeben wäre, zu
denen uns die vorspringende Lage von Ostpreußen die Hand bieten würde.
Es ist unsre Ansicht, daß der Kaiser Nikolaus, auch im Modliner Dreieck*), sich
nicht für stark genug erachten würde, um einer preußischen Umgehung vom



Zwischen den Festungen Neu-Georgicwsk, Sicrock und Prag».
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/78>, abgerufen am 17.06.2024.