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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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erfahren wir nur die Außenseite. , Das ist um so schlimmer, da der Dichter
mit seinen Charakteren nicht im gewöhnlichen Gleise bleibt, sondern sich sichtlich
bemüht, auch in den bekannten Verhältnissen excentrische Naturen darzustellen.
Dinge, die im gewöhnlichen Leben als Verbrechen bezeichnet werden, gehen hier
ohne ernste Folge vorüber. So etwas kann nur durch ein tieferes Eingehen
in die Natur des Menschen motivirt werden. Von den vier Hauptpersonen
der wirklichen Gesellschaft bleiben uns Marie und Plesscnberg völlig fremd, die
beiden andern, Felix und Stein, sind ungesunde Naturen. Felir, der durch
eine erhitzte Einbildung halb wahnsinnig wird, und nicht nur alle Gesetze der
Sittlichkeit, sondern auch alle Formen der Gesellschaft, in denen er erzogen ist,
über den Haufen wirft, ist kaum weniger unangenehm, als der tiefkühlende
Maler Stein mit der kalten Außenseite, der zuletzt gleichfalls wahnsinnig wird,
und den die Heldin einmal ganz richtig als einen Pedanten charakterisirt. Solche
Personen, die weder recht erwerben noch recht entsagen können, gehören leider
zu den Lieblingsfiguren unsrer neuesten Romantik; sie sind aber nur ein Zeichen
dafür, daß sich hinter den titanischen Geberden unsres Weltschmerzes nichts
Anderes versteckt, als die alte Empfindsamkeit.

Der Dichter weiß die Verwicklungen seines Romans nicht anders zu lösen,
als daß er zuletzt ein allgemeines Gemetzel eintreten läßt, über welches die
schreckliche Meduse und ein humoristischer Kobold ein teuflisches Hohngelächter
anstimmen. Dieses Hohngelächter ist umsoweniger ein befriedigender Aus-
gang, da im Lauf des Romans sich die verschiedenen Personen aus das be
quemste und ruhigste über das Menschenleben im allgemeinen "ut die Kunst
insbesondere unterhalten haben; ja, diese Unterhaltungen gehn noch bis an
das Ende fort, und so findet der tragische Ausgang die Phantasie auf keine
Weise vorbereitet; er verwundert und bestürzt uns, ohne uns zu erschüttern.

Wenn wir den Roman als verfehlt bezeichnen müssen, so sind doch un¬
zweifelhaft Elemente darin vorhanden, aus denen sich etwas gestalten könnte,,
wenn der Dichter, statt den Eingebungen seiner Laune zu folgen, sich einem
künstlerischen Plan unterordnete. Das echte Genie, namentlich in einer naiven
Zeit, bedarf zum Schaffen eines Plans nicht, aber wir sind durch unsre Ueber¬
bildung der Natur so entfremdet, daß nur eine strenge bewußte Sammlung
uns zur Natur wieder zurückführen kann.

In der Vorrede zu seinem zweiten Roman: Aus der Junkerwelt (1830)
kommt der Verfasser noch einmal auf seine frühere Leistung zurück. Er sucht
die Formlosigkeit derselben dadurch zu rechtfertigen, daß sie "jedenfalls interessant"
war; eine Rechtfertigung, die nicht stichhaltig sein kann, da das Interesse nur
ein subjectives ist und aus Zufälligkeiten hervorgerufen werden kann.

In der Junkerwelt tritt das Raisonnement noch massenhafter hervor, und
der Dichter unterläßt nicht, nach dem Vorbild Jean Pauls von Zeit zu Zeit


erfahren wir nur die Außenseite. , Das ist um so schlimmer, da der Dichter
mit seinen Charakteren nicht im gewöhnlichen Gleise bleibt, sondern sich sichtlich
bemüht, auch in den bekannten Verhältnissen excentrische Naturen darzustellen.
Dinge, die im gewöhnlichen Leben als Verbrechen bezeichnet werden, gehen hier
ohne ernste Folge vorüber. So etwas kann nur durch ein tieferes Eingehen
in die Natur des Menschen motivirt werden. Von den vier Hauptpersonen
der wirklichen Gesellschaft bleiben uns Marie und Plesscnberg völlig fremd, die
beiden andern, Felix und Stein, sind ungesunde Naturen. Felir, der durch
eine erhitzte Einbildung halb wahnsinnig wird, und nicht nur alle Gesetze der
Sittlichkeit, sondern auch alle Formen der Gesellschaft, in denen er erzogen ist,
über den Haufen wirft, ist kaum weniger unangenehm, als der tiefkühlende
Maler Stein mit der kalten Außenseite, der zuletzt gleichfalls wahnsinnig wird,
und den die Heldin einmal ganz richtig als einen Pedanten charakterisirt. Solche
Personen, die weder recht erwerben noch recht entsagen können, gehören leider
zu den Lieblingsfiguren unsrer neuesten Romantik; sie sind aber nur ein Zeichen
dafür, daß sich hinter den titanischen Geberden unsres Weltschmerzes nichts
Anderes versteckt, als die alte Empfindsamkeit.

Der Dichter weiß die Verwicklungen seines Romans nicht anders zu lösen,
als daß er zuletzt ein allgemeines Gemetzel eintreten läßt, über welches die
schreckliche Meduse und ein humoristischer Kobold ein teuflisches Hohngelächter
anstimmen. Dieses Hohngelächter ist umsoweniger ein befriedigender Aus-
gang, da im Lauf des Romans sich die verschiedenen Personen aus das be
quemste und ruhigste über das Menschenleben im allgemeinen »ut die Kunst
insbesondere unterhalten haben; ja, diese Unterhaltungen gehn noch bis an
das Ende fort, und so findet der tragische Ausgang die Phantasie auf keine
Weise vorbereitet; er verwundert und bestürzt uns, ohne uns zu erschüttern.

Wenn wir den Roman als verfehlt bezeichnen müssen, so sind doch un¬
zweifelhaft Elemente darin vorhanden, aus denen sich etwas gestalten könnte,,
wenn der Dichter, statt den Eingebungen seiner Laune zu folgen, sich einem
künstlerischen Plan unterordnete. Das echte Genie, namentlich in einer naiven
Zeit, bedarf zum Schaffen eines Plans nicht, aber wir sind durch unsre Ueber¬
bildung der Natur so entfremdet, daß nur eine strenge bewußte Sammlung
uns zur Natur wieder zurückführen kann.

In der Vorrede zu seinem zweiten Roman: Aus der Junkerwelt (1830)
kommt der Verfasser noch einmal auf seine frühere Leistung zurück. Er sucht
die Formlosigkeit derselben dadurch zu rechtfertigen, daß sie „jedenfalls interessant"
war; eine Rechtfertigung, die nicht stichhaltig sein kann, da das Interesse nur
ein subjectives ist und aus Zufälligkeiten hervorgerufen werden kann.

In der Junkerwelt tritt das Raisonnement noch massenhafter hervor, und
der Dichter unterläßt nicht, nach dem Vorbild Jean Pauls von Zeit zu Zeit


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[0092] erfahren wir nur die Außenseite. , Das ist um so schlimmer, da der Dichter mit seinen Charakteren nicht im gewöhnlichen Gleise bleibt, sondern sich sichtlich bemüht, auch in den bekannten Verhältnissen excentrische Naturen darzustellen. Dinge, die im gewöhnlichen Leben als Verbrechen bezeichnet werden, gehen hier ohne ernste Folge vorüber. So etwas kann nur durch ein tieferes Eingehen in die Natur des Menschen motivirt werden. Von den vier Hauptpersonen der wirklichen Gesellschaft bleiben uns Marie und Plesscnberg völlig fremd, die beiden andern, Felix und Stein, sind ungesunde Naturen. Felir, der durch eine erhitzte Einbildung halb wahnsinnig wird, und nicht nur alle Gesetze der Sittlichkeit, sondern auch alle Formen der Gesellschaft, in denen er erzogen ist, über den Haufen wirft, ist kaum weniger unangenehm, als der tiefkühlende Maler Stein mit der kalten Außenseite, der zuletzt gleichfalls wahnsinnig wird, und den die Heldin einmal ganz richtig als einen Pedanten charakterisirt. Solche Personen, die weder recht erwerben noch recht entsagen können, gehören leider zu den Lieblingsfiguren unsrer neuesten Romantik; sie sind aber nur ein Zeichen dafür, daß sich hinter den titanischen Geberden unsres Weltschmerzes nichts Anderes versteckt, als die alte Empfindsamkeit. Der Dichter weiß die Verwicklungen seines Romans nicht anders zu lösen, als daß er zuletzt ein allgemeines Gemetzel eintreten läßt, über welches die schreckliche Meduse und ein humoristischer Kobold ein teuflisches Hohngelächter anstimmen. Dieses Hohngelächter ist umsoweniger ein befriedigender Aus- gang, da im Lauf des Romans sich die verschiedenen Personen aus das be quemste und ruhigste über das Menschenleben im allgemeinen »ut die Kunst insbesondere unterhalten haben; ja, diese Unterhaltungen gehn noch bis an das Ende fort, und so findet der tragische Ausgang die Phantasie auf keine Weise vorbereitet; er verwundert und bestürzt uns, ohne uns zu erschüttern. Wenn wir den Roman als verfehlt bezeichnen müssen, so sind doch un¬ zweifelhaft Elemente darin vorhanden, aus denen sich etwas gestalten könnte,, wenn der Dichter, statt den Eingebungen seiner Laune zu folgen, sich einem künstlerischen Plan unterordnete. Das echte Genie, namentlich in einer naiven Zeit, bedarf zum Schaffen eines Plans nicht, aber wir sind durch unsre Ueber¬ bildung der Natur so entfremdet, daß nur eine strenge bewußte Sammlung uns zur Natur wieder zurückführen kann. In der Vorrede zu seinem zweiten Roman: Aus der Junkerwelt (1830) kommt der Verfasser noch einmal auf seine frühere Leistung zurück. Er sucht die Formlosigkeit derselben dadurch zu rechtfertigen, daß sie „jedenfalls interessant" war; eine Rechtfertigung, die nicht stichhaltig sein kann, da das Interesse nur ein subjectives ist und aus Zufälligkeiten hervorgerufen werden kann. In der Junkerwelt tritt das Raisonnement noch massenhafter hervor, und der Dichter unterläßt nicht, nach dem Vorbild Jean Pauls von Zeit zu Zeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/92>, abgerufen am 17.06.2024.