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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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vom Geist ihren brillantesten Ausdruck gefunden hat, und die wir, wenn wir
von der Form abstrahiren, schon in den politischen Ercursen des Herrn von
Nadowitz antreffen. Nun ist es von niemand zu verlangen, daß er sich in
politischen und socialen Dingen eine größere Klarheit erworben habe, als das
übrige Publicum; aber wol ist es zu verlangen, wenn er es unternimmt, das
Publicum über dergleichen Dinge aufzuklären. Wer nicht im Stande ist, uns
über bestimmte Fragen bestimmte Antworten zu geben, der möge sich von der
Politik fernhalten, denn die Confusion ist, wie die Gräfin Keule richtig bemerkt,
schon ohnehin so groß, daß man es nicht nöthig hat, sie noch durch künstliche
Zusammenstellung zu vermehren. Unter allen möglichen politisch-socialen Rich¬
tungen aber scheint uns das Ritterthum vom Geist am wenigsten berechtigt zu
sein, welches die Arbeit scheut, die vorliegenden Verhältnisse gründlich zu un¬
tersuchen, welches auch den Glauben nicht besitzt, der sich vor Abschluß der
Untersuchung einer Sache hingibt, und sich daher in Ermanglung eines Bessern
damit begnügt, in geistreichem Dilettantismus mit den Gegensätzen zu tändeln.
Der naive Dichter hat es nicht nöthig, sich an eine Meinung zu verpfänden;
aber der reflectirende Dichter muß wissen, was er eigentlich will, sonst kann er
seine Worte sparen, die doch zu nichts führen.

Wir kommen auf das neueste Gedicht des Verfassers, Na hab. Wir über¬
gehen die Vorrede und Nachrede, in denen der Dichter nach der neuesten Art
sich über sein Verhältniß zur Religion und zur Kunst weitläufiger ausspricht
und die unvermeidliche Bemerkung macht, daß er nur von wenigen könne ver¬
standen werden u. s. w. Derartige Erklärungen scheinen um so unvermeidlicher
zu sein, jeweiliger sie dem guten Geschmack entsprechen. Was die Wahl des
Stoffs betrifft, so scheint es uns ausgemacht, daß die Bibel dem Dichter ebenso¬
gut seinen Gegenstand liefern kann, als jedes beliebige andre Buch, und die
dichterische Freiheit in der Behandlung desselben scheint uns wenigstens bei
den Episoden vollkommen gerechtfertigt. Die Geschichte der Rahab, welche ihre
Vaterstadt Jericho an die Feinde verräth, ist augenscheinlich eine solche Episode,
und der Dichter kann daher aus ihr machen, was er will. Mar Waldau sucht
den Verrath daraus zu erklären, daß Rahab, ursprünglich eine sehr edle und
reine Natur, auf eine schändliche Weise verführt, gemißhandelt und endlich als
öffentliche Dirne von der ganzen Stadt mit Füßen getreten wurde, fo daß daS
Gefühl der Rache alle Vaterlandsliebe in ihr ersticken mußte. Wenn diese
Disposition des Stoffs zu Scenen führte, die mit den gewöhnlichen Begriffen
von Sittlichkeit nicht übereinstimmen, so lag auch darin noch keine Versün¬
digung, wenn sich der Dichter nur aus dasjenige beschränkte, was zu dein tra¬
gischen Eindruck nothwendig war. Nun hat er zwar dieses Maß keineswegs
eingehalten, er hat einzelne Scenen dargestellt, die nur scheußlich und empörend,
aber nicht tragisch sind; allein er ist wenigstens von dem Vorwurf freizu-


vom Geist ihren brillantesten Ausdruck gefunden hat, und die wir, wenn wir
von der Form abstrahiren, schon in den politischen Ercursen des Herrn von
Nadowitz antreffen. Nun ist es von niemand zu verlangen, daß er sich in
politischen und socialen Dingen eine größere Klarheit erworben habe, als das
übrige Publicum; aber wol ist es zu verlangen, wenn er es unternimmt, das
Publicum über dergleichen Dinge aufzuklären. Wer nicht im Stande ist, uns
über bestimmte Fragen bestimmte Antworten zu geben, der möge sich von der
Politik fernhalten, denn die Confusion ist, wie die Gräfin Keule richtig bemerkt,
schon ohnehin so groß, daß man es nicht nöthig hat, sie noch durch künstliche
Zusammenstellung zu vermehren. Unter allen möglichen politisch-socialen Rich¬
tungen aber scheint uns das Ritterthum vom Geist am wenigsten berechtigt zu
sein, welches die Arbeit scheut, die vorliegenden Verhältnisse gründlich zu un¬
tersuchen, welches auch den Glauben nicht besitzt, der sich vor Abschluß der
Untersuchung einer Sache hingibt, und sich daher in Ermanglung eines Bessern
damit begnügt, in geistreichem Dilettantismus mit den Gegensätzen zu tändeln.
Der naive Dichter hat es nicht nöthig, sich an eine Meinung zu verpfänden;
aber der reflectirende Dichter muß wissen, was er eigentlich will, sonst kann er
seine Worte sparen, die doch zu nichts führen.

Wir kommen auf das neueste Gedicht des Verfassers, Na hab. Wir über¬
gehen die Vorrede und Nachrede, in denen der Dichter nach der neuesten Art
sich über sein Verhältniß zur Religion und zur Kunst weitläufiger ausspricht
und die unvermeidliche Bemerkung macht, daß er nur von wenigen könne ver¬
standen werden u. s. w. Derartige Erklärungen scheinen um so unvermeidlicher
zu sein, jeweiliger sie dem guten Geschmack entsprechen. Was die Wahl des
Stoffs betrifft, so scheint es uns ausgemacht, daß die Bibel dem Dichter ebenso¬
gut seinen Gegenstand liefern kann, als jedes beliebige andre Buch, und die
dichterische Freiheit in der Behandlung desselben scheint uns wenigstens bei
den Episoden vollkommen gerechtfertigt. Die Geschichte der Rahab, welche ihre
Vaterstadt Jericho an die Feinde verräth, ist augenscheinlich eine solche Episode,
und der Dichter kann daher aus ihr machen, was er will. Mar Waldau sucht
den Verrath daraus zu erklären, daß Rahab, ursprünglich eine sehr edle und
reine Natur, auf eine schändliche Weise verführt, gemißhandelt und endlich als
öffentliche Dirne von der ganzen Stadt mit Füßen getreten wurde, fo daß daS
Gefühl der Rache alle Vaterlandsliebe in ihr ersticken mußte. Wenn diese
Disposition des Stoffs zu Scenen führte, die mit den gewöhnlichen Begriffen
von Sittlichkeit nicht übereinstimmen, so lag auch darin noch keine Versün¬
digung, wenn sich der Dichter nur aus dasjenige beschränkte, was zu dein tra¬
gischen Eindruck nothwendig war. Nun hat er zwar dieses Maß keineswegs
eingehalten, er hat einzelne Scenen dargestellt, die nur scheußlich und empörend,
aber nicht tragisch sind; allein er ist wenigstens von dem Vorwurf freizu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/95>, abgerufen am 17.06.2024.