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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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urtheilen, hat es den Anschein, als ob beide der streitenden Parteien im Volke
sich gleich ständen und die nächste Präsidentenwahl daher nicht durch dieses
vollzogen werden, sondern dem Repräsentantenhaus zufallen würde, wo In¬
triguen und irgend eine das Gleichgewicht anstrebende Fraction den Ausschlag
geben wird.




Neue Romane. -

Ernst Wagners sämmtliche Werke. Dritte Auflage in sechs Bän¬
den. (Leipzig, Ernst Fleischer.) -- Friedrich Heinrich Jacobis aus¬
gewählte Werke. Neue Ausgabe in drei Bänden. (Leipzig, Ernst Fleischer.)
-- Die vorliegende Ausgabe enthält die Schriften von Ernst Wagner ganz,
nebst der Biographie von Mosengeil und der Correspondenz; von Jacobi da¬
gegen nur Woldemar, Allwill und eine kleine Auswahl aus den Briefen.
Ueber die Bedeutung dieser beiden Schriftsteller in der Geschichte des Romans
haben wir uns an einem andern Ort ausführlich ausgesprochen. Beide ge¬
hören in das Zeitalter der gesteigerten Gefühlsschwelgerei, wo man mit einer
ängstlichen Aufmerksamkeit alle Regungen der Seele überwachte, so unbedeutend
sie sein mochten und sich nicht selten veranlaßt sah, um der Darstellung willen
die wunderlichsten Empfindungen von der Welt künstlich hervorzurufen. Dazu
kommt noch bei Wagner eine fieberhaft gesteigerte Sinnlichkeit, die zuweilen zu
recht unschönen Ausbrüchen führt. Keiner von ihren Romanen kann Anspruch
auf die Bezeichnung eines classische" Werks machen; dagegen werden sie doch
die meisten unsrer Tagesproducte überleben. Der Grund tagt nicht blos
darin, daß Jacobi ein geistvoller Mann war, der uns alle Augenblicke durch
tief eingehende Bemerkungen überrascht und daß Wagner ein großes malerisches
Talent besaß, sondern hauptsächlich darin, daß sie aus innerm Drange, in
dem Bewußtsein zwingender Nothwendigkeit schrieben, während heutzutage der
Entschluß zu schreiben sehr häufig dem Bewußtsein über das, was man schrei¬
ben will, vorausgeht. Jacobis und Wagners Werke sind Naturprodukte und
ebendeshalb von Wichtigkeit für die Literaturgeschichte. Es war Wagner ein
ebenso heiliger Ernst mit der Errichtung einer allgemeinen deutschen Kunst¬
anstalt und mit der Einführung der Obstbaumzucht zur Veredlung der Volkö-
cultur, als es Jacobi Ernst war mit seiner Entwicklung der Gefühlspflicht.
Beide gehören einer unreifen Phase der Empfindung an, aber als solche sind
sie zugleich Zeugen eines historischen Processes, Wagner, der leidenschaftliche
Verehrer Fichtes, nicht minder, als Jacobi, der Feind aller kritischen Philo¬
sophie. An Erfindung und Schärfe der Beobachtung stehen sie ihrem Zeit¬
genossen Jean Paul bei weitem nach; an künstlerischem Gefühl dagegen über-


urtheilen, hat es den Anschein, als ob beide der streitenden Parteien im Volke
sich gleich ständen und die nächste Präsidentenwahl daher nicht durch dieses
vollzogen werden, sondern dem Repräsentantenhaus zufallen würde, wo In¬
triguen und irgend eine das Gleichgewicht anstrebende Fraction den Ausschlag
geben wird.




Neue Romane. -

Ernst Wagners sämmtliche Werke. Dritte Auflage in sechs Bän¬
den. (Leipzig, Ernst Fleischer.) — Friedrich Heinrich Jacobis aus¬
gewählte Werke. Neue Ausgabe in drei Bänden. (Leipzig, Ernst Fleischer.)
— Die vorliegende Ausgabe enthält die Schriften von Ernst Wagner ganz,
nebst der Biographie von Mosengeil und der Correspondenz; von Jacobi da¬
gegen nur Woldemar, Allwill und eine kleine Auswahl aus den Briefen.
Ueber die Bedeutung dieser beiden Schriftsteller in der Geschichte des Romans
haben wir uns an einem andern Ort ausführlich ausgesprochen. Beide ge¬
hören in das Zeitalter der gesteigerten Gefühlsschwelgerei, wo man mit einer
ängstlichen Aufmerksamkeit alle Regungen der Seele überwachte, so unbedeutend
sie sein mochten und sich nicht selten veranlaßt sah, um der Darstellung willen
die wunderlichsten Empfindungen von der Welt künstlich hervorzurufen. Dazu
kommt noch bei Wagner eine fieberhaft gesteigerte Sinnlichkeit, die zuweilen zu
recht unschönen Ausbrüchen führt. Keiner von ihren Romanen kann Anspruch
auf die Bezeichnung eines classische» Werks machen; dagegen werden sie doch
die meisten unsrer Tagesproducte überleben. Der Grund tagt nicht blos
darin, daß Jacobi ein geistvoller Mann war, der uns alle Augenblicke durch
tief eingehende Bemerkungen überrascht und daß Wagner ein großes malerisches
Talent besaß, sondern hauptsächlich darin, daß sie aus innerm Drange, in
dem Bewußtsein zwingender Nothwendigkeit schrieben, während heutzutage der
Entschluß zu schreiben sehr häufig dem Bewußtsein über das, was man schrei¬
ben will, vorausgeht. Jacobis und Wagners Werke sind Naturprodukte und
ebendeshalb von Wichtigkeit für die Literaturgeschichte. Es war Wagner ein
ebenso heiliger Ernst mit der Errichtung einer allgemeinen deutschen Kunst¬
anstalt und mit der Einführung der Obstbaumzucht zur Veredlung der Volkö-
cultur, als es Jacobi Ernst war mit seiner Entwicklung der Gefühlspflicht.
Beide gehören einer unreifen Phase der Empfindung an, aber als solche sind
sie zugleich Zeugen eines historischen Processes, Wagner, der leidenschaftliche
Verehrer Fichtes, nicht minder, als Jacobi, der Feind aller kritischen Philo¬
sophie. An Erfindung und Schärfe der Beobachtung stehen sie ihrem Zeit¬
genossen Jean Paul bei weitem nach; an künstlerischem Gefühl dagegen über-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/108>, abgerufen am 15.06.2024.