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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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treffen sie ihn und namentlich bei Wagner finden wir jene Form schon in völli¬
ger Vollendung, welche noch die unsrige ist. --

Norika, das sind Nürnbergische Novellen aus alter Zeit.
Nach einer Handschrift des sechzehnten Jahrhunderts herausgegeben von
August Hagen. Zweite, durchgesehene Auflage. Leipzig, I. I. Weber. --
Die Handschrift ist nur eine poetische Fiction. Die Sammlung enthält No¬
vellen, die im Geist des Zeitalters von Albrecht Dürer gedichtet sind und die
von einem eifrigen Studium jener Zeit und einer warmen Liebe für die Kunst
Zeugniß ablegen. -- /

Die Leute von Seldwyla. Erzählungen von Gottfried Keller.
Braunschweig, Vieweg K Sohn. -- Wir haben bei Gelegenheit des grünen
Heinrich das außerordentliche Talent des Dichters hervorgehoben, zugleich aber .
die krankhafte Richtung bedauert, die dieses Talent genommen hat. Auch in
den vorliegenden kleinen Novellen, die im Wesentlichen der Gattung der Dorf¬
geschichte angehören, fehlt es nicht an barocken-Einfällen , aber der günstige
Eindruck überwiegt. Seldwyla ist ein närrischer Schweizerort, dessen Einwohner
sich durch Unstetigkeit und Unsicherheit des Lebens einen üblen Ruf erworben
haben, doch ist die Schilderung dieses Orts im Ganzen nur ein ziemlich gleich¬
seitiger Nahmen sür die einzelnen Bilder, denn Charaktere, wie die hier ge¬
schilderten, so sehr sie auch den Anstrich von Sonderlingen haben, würde man
doch auch anderwärts wieder antreffen. Der Dichter verschmäht das Hilfsmittel
des Dialekts, welches Jeremias Gotthelf und zum Theil auch Auerbach an¬
gewandt haben, um einen frischen, lebendigen Naturlaut hervorzubringen.
Dasz es ihm trotzdem gelingt, auch in der äußern Form naiv zu sein, wird
man aus dem folgenden Bilde entnehmen können, das Pancraz der Schmoller
von seiner ersten Liebe entwirft. "Es war ein wohlgestaltetes Frauenzimmer
von großer Schönheit; doch war sie nicht nur eine Schönheit, sondern auch
eine Person, die in ihren eignen seinen Schuhen stand und ging und sogleich
den Eindruck machte, daß es für den, der sich etwa in sie verliebte, nicht
leicht hinter jedem Hag einen Ersatz oder einen Trost für diese gäbe, eben weil
es eine ganze und selbstständige Person schien, die' so nicht zum zweiten Male
vorkommt .... Indessen war sie sehr gebildet in allen schönen Dingen, da
sie nach Art solcher Geschöpfe die Kindheit und bisherige Jugend damit zu¬
gebracht, alles zu lernen, was irgend wohl ansteht und sie kannte sogar fast
alle neuern Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, so daß un-
wisiend.e Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene schreckliche Verlegenheit ge¬
bethen, weniger zu verstehen, als ein müssiges Ziergewächs von Jungfräulein.
Ueberhaupt schien ein gesunder und wohl durchgebildeter Sinn in ihr sich mehr
dadurch zu zeigen, daß sie die vorkommenden kleineren oder größeren Dinge,
Borfälle oder Gegenstände durchaus zutreffend beurtheilte und behandelte, und


treffen sie ihn und namentlich bei Wagner finden wir jene Form schon in völli¬
ger Vollendung, welche noch die unsrige ist. —

Norika, das sind Nürnbergische Novellen aus alter Zeit.
Nach einer Handschrift des sechzehnten Jahrhunderts herausgegeben von
August Hagen. Zweite, durchgesehene Auflage. Leipzig, I. I. Weber. —
Die Handschrift ist nur eine poetische Fiction. Die Sammlung enthält No¬
vellen, die im Geist des Zeitalters von Albrecht Dürer gedichtet sind und die
von einem eifrigen Studium jener Zeit und einer warmen Liebe für die Kunst
Zeugniß ablegen. — /

Die Leute von Seldwyla. Erzählungen von Gottfried Keller.
Braunschweig, Vieweg K Sohn. — Wir haben bei Gelegenheit des grünen
Heinrich das außerordentliche Talent des Dichters hervorgehoben, zugleich aber .
die krankhafte Richtung bedauert, die dieses Talent genommen hat. Auch in
den vorliegenden kleinen Novellen, die im Wesentlichen der Gattung der Dorf¬
geschichte angehören, fehlt es nicht an barocken-Einfällen , aber der günstige
Eindruck überwiegt. Seldwyla ist ein närrischer Schweizerort, dessen Einwohner
sich durch Unstetigkeit und Unsicherheit des Lebens einen üblen Ruf erworben
haben, doch ist die Schilderung dieses Orts im Ganzen nur ein ziemlich gleich¬
seitiger Nahmen sür die einzelnen Bilder, denn Charaktere, wie die hier ge¬
schilderten, so sehr sie auch den Anstrich von Sonderlingen haben, würde man
doch auch anderwärts wieder antreffen. Der Dichter verschmäht das Hilfsmittel
des Dialekts, welches Jeremias Gotthelf und zum Theil auch Auerbach an¬
gewandt haben, um einen frischen, lebendigen Naturlaut hervorzubringen.
Dasz es ihm trotzdem gelingt, auch in der äußern Form naiv zu sein, wird
man aus dem folgenden Bilde entnehmen können, das Pancraz der Schmoller
von seiner ersten Liebe entwirft. „Es war ein wohlgestaltetes Frauenzimmer
von großer Schönheit; doch war sie nicht nur eine Schönheit, sondern auch
eine Person, die in ihren eignen seinen Schuhen stand und ging und sogleich
den Eindruck machte, daß es für den, der sich etwa in sie verliebte, nicht
leicht hinter jedem Hag einen Ersatz oder einen Trost für diese gäbe, eben weil
es eine ganze und selbstständige Person schien, die' so nicht zum zweiten Male
vorkommt .... Indessen war sie sehr gebildet in allen schönen Dingen, da
sie nach Art solcher Geschöpfe die Kindheit und bisherige Jugend damit zu¬
gebracht, alles zu lernen, was irgend wohl ansteht und sie kannte sogar fast
alle neuern Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, so daß un-
wisiend.e Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene schreckliche Verlegenheit ge¬
bethen, weniger zu verstehen, als ein müssiges Ziergewächs von Jungfräulein.
Ueberhaupt schien ein gesunder und wohl durchgebildeter Sinn in ihr sich mehr
dadurch zu zeigen, daß sie die vorkommenden kleineren oder größeren Dinge,
Borfälle oder Gegenstände durchaus zutreffend beurtheilte und behandelte, und


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[0109] treffen sie ihn und namentlich bei Wagner finden wir jene Form schon in völli¬ ger Vollendung, welche noch die unsrige ist. — Norika, das sind Nürnbergische Novellen aus alter Zeit. Nach einer Handschrift des sechzehnten Jahrhunderts herausgegeben von August Hagen. Zweite, durchgesehene Auflage. Leipzig, I. I. Weber. — Die Handschrift ist nur eine poetische Fiction. Die Sammlung enthält No¬ vellen, die im Geist des Zeitalters von Albrecht Dürer gedichtet sind und die von einem eifrigen Studium jener Zeit und einer warmen Liebe für die Kunst Zeugniß ablegen. — / Die Leute von Seldwyla. Erzählungen von Gottfried Keller. Braunschweig, Vieweg K Sohn. — Wir haben bei Gelegenheit des grünen Heinrich das außerordentliche Talent des Dichters hervorgehoben, zugleich aber . die krankhafte Richtung bedauert, die dieses Talent genommen hat. Auch in den vorliegenden kleinen Novellen, die im Wesentlichen der Gattung der Dorf¬ geschichte angehören, fehlt es nicht an barocken-Einfällen , aber der günstige Eindruck überwiegt. Seldwyla ist ein närrischer Schweizerort, dessen Einwohner sich durch Unstetigkeit und Unsicherheit des Lebens einen üblen Ruf erworben haben, doch ist die Schilderung dieses Orts im Ganzen nur ein ziemlich gleich¬ seitiger Nahmen sür die einzelnen Bilder, denn Charaktere, wie die hier ge¬ schilderten, so sehr sie auch den Anstrich von Sonderlingen haben, würde man doch auch anderwärts wieder antreffen. Der Dichter verschmäht das Hilfsmittel des Dialekts, welches Jeremias Gotthelf und zum Theil auch Auerbach an¬ gewandt haben, um einen frischen, lebendigen Naturlaut hervorzubringen. Dasz es ihm trotzdem gelingt, auch in der äußern Form naiv zu sein, wird man aus dem folgenden Bilde entnehmen können, das Pancraz der Schmoller von seiner ersten Liebe entwirft. „Es war ein wohlgestaltetes Frauenzimmer von großer Schönheit; doch war sie nicht nur eine Schönheit, sondern auch eine Person, die in ihren eignen seinen Schuhen stand und ging und sogleich den Eindruck machte, daß es für den, der sich etwa in sie verliebte, nicht leicht hinter jedem Hag einen Ersatz oder einen Trost für diese gäbe, eben weil es eine ganze und selbstständige Person schien, die' so nicht zum zweiten Male vorkommt .... Indessen war sie sehr gebildet in allen schönen Dingen, da sie nach Art solcher Geschöpfe die Kindheit und bisherige Jugend damit zu¬ gebracht, alles zu lernen, was irgend wohl ansteht und sie kannte sogar fast alle neuern Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, so daß un- wisiend.e Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene schreckliche Verlegenheit ge¬ bethen, weniger zu verstehen, als ein müssiges Ziergewächs von Jungfräulein. Ueberhaupt schien ein gesunder und wohl durchgebildeter Sinn in ihr sich mehr dadurch zu zeigen, daß sie die vorkommenden kleineren oder größeren Dinge, Borfälle oder Gegenstände durchaus zutreffend beurtheilte und behandelte, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/109>, abgerufen am 15.06.2024.