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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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dabei waren ihre Gedanken und Worte so einfach lieblich und bestimmt,' wie
der Ton ihrer Stimme und die Bewegungen ihres Körpers. Und über alles
dies war sie, wie gesagt, so kindlich, so wenig durchtrieben, daß sie nicht im
Stande war, eine überlegte Partie Schach spielen zu lernen und dennoch mit
der fröhlichsten Geduld am Brete saß, um sich von ihrem Vater unaufhörlich
überrumpeln zu, lassen. So ward es einem sogleich heimathlich und wohl zu
Muthe in ihrer Nähe; man dachte unverweilt, diese wäre der wahre Jakob
unter den Weibern und keine bessere gäbe es in der Welt." -- Leider ent¬
spricht die weitere Entwicklung dieses Charakters nicht den Erwartungen. Das
so liebenswürdig geschilderte Mädchen verwandelt sich plötzlich in eine Kokette
des gemeinsten Schlages, eine Verwandlung, die uns verstimmt, ohne uns zu
überzeugen. Ueberhaupt tritt in dieser Novelle, so gut sie erzählt ist, doch die
Neigung zum Bizarren, Uebertriebener hervor. -- Desto gelungener ist die
zweite Geschichte: Frau Regel Amrain, eine der besten Dorfgeschichten, die wir
kennen und den vorzüglichsten von Jeremias Gotthelf an die Seite zu stellen.
-- Einen trüben Eindruck hinterläßt die dritte Geschichte: Romeo und Julie
auf dem Dorf; die Geschichte der Verarmung zweier Familien durch einen un¬
sinnigen Proceß; aber sie ist von einer hinreißenden Naturwahrheit und die
wilde, leidenschaftliche Bewegung des Schlusses, der heidnische Tod der beiden
Liebenden läßt uns über manches Bedenkliche hinwegsehen. -- Eine tolle, über¬
müthige Laune herrscht in der Erzählung: die drei gerechten Kammmacher, die
außerdem noch den'Vorzug realistischer Wahrheit hat, wenn auch der Schluß
etwas ins Hoffmannsche Gebiet übergeht. -- Trotz mancher Bedenken gegen
seine Richtung gehört Gottfried Keller doch zu denjenigen Dichtern, auf die wir
die meiste Hoffnung setzen. --

Kaiserglück. Historischer Roman aus dem dreizehnten Jahrhunderte
von Gotthardt Alfred (G. A. Luther.) Vier Bände. Leipzig, Kollmonn.
-- Die Hohenstaufen kommen, wie es scheint, wieder in die Mode. Der Ver¬
fasser des vorliegenden Romans bat ziemlich vollständige Studien gemacht, aber
es ist ihm nicht gelungen, sie zu einem lebendigen Kunstwerk zu ver¬
arbeiten. --

Elisabeth oder Lebenswege. Von Anna von Berg. A Bände.
Weimar, T. F. A. Kühn. -- Die Erzählung empfiehlt sich durch ihre anspruchslose
Haltung, durch die sorgfältige Ausarbeitung des Einzelnen und durch die ge¬
sunde, frische Lebensanschauung. Wenn sie auch eine tiefere Bedeutung nicht
beanspruchen darf, so ist eine solche Lectüre doch unendlich jenen schlechten
französischen Moderomanen vorzuziehen, durch welche die Phantasie unsers
Volks corrumpirt wird. --

Aus dem Leben und Dichten in Oesterreich. Gedichte und Novellen
"von Eh. L. Danis, L. Deutschinger, B. Schellinger, F.Wellen und I. P. Wie-


dabei waren ihre Gedanken und Worte so einfach lieblich und bestimmt,' wie
der Ton ihrer Stimme und die Bewegungen ihres Körpers. Und über alles
dies war sie, wie gesagt, so kindlich, so wenig durchtrieben, daß sie nicht im
Stande war, eine überlegte Partie Schach spielen zu lernen und dennoch mit
der fröhlichsten Geduld am Brete saß, um sich von ihrem Vater unaufhörlich
überrumpeln zu, lassen. So ward es einem sogleich heimathlich und wohl zu
Muthe in ihrer Nähe; man dachte unverweilt, diese wäre der wahre Jakob
unter den Weibern und keine bessere gäbe es in der Welt." — Leider ent¬
spricht die weitere Entwicklung dieses Charakters nicht den Erwartungen. Das
so liebenswürdig geschilderte Mädchen verwandelt sich plötzlich in eine Kokette
des gemeinsten Schlages, eine Verwandlung, die uns verstimmt, ohne uns zu
überzeugen. Ueberhaupt tritt in dieser Novelle, so gut sie erzählt ist, doch die
Neigung zum Bizarren, Uebertriebener hervor. — Desto gelungener ist die
zweite Geschichte: Frau Regel Amrain, eine der besten Dorfgeschichten, die wir
kennen und den vorzüglichsten von Jeremias Gotthelf an die Seite zu stellen.
— Einen trüben Eindruck hinterläßt die dritte Geschichte: Romeo und Julie
auf dem Dorf; die Geschichte der Verarmung zweier Familien durch einen un¬
sinnigen Proceß; aber sie ist von einer hinreißenden Naturwahrheit und die
wilde, leidenschaftliche Bewegung des Schlusses, der heidnische Tod der beiden
Liebenden läßt uns über manches Bedenkliche hinwegsehen. — Eine tolle, über¬
müthige Laune herrscht in der Erzählung: die drei gerechten Kammmacher, die
außerdem noch den'Vorzug realistischer Wahrheit hat, wenn auch der Schluß
etwas ins Hoffmannsche Gebiet übergeht. — Trotz mancher Bedenken gegen
seine Richtung gehört Gottfried Keller doch zu denjenigen Dichtern, auf die wir
die meiste Hoffnung setzen. —

Kaiserglück. Historischer Roman aus dem dreizehnten Jahrhunderte
von Gotthardt Alfred (G. A. Luther.) Vier Bände. Leipzig, Kollmonn.
— Die Hohenstaufen kommen, wie es scheint, wieder in die Mode. Der Ver¬
fasser des vorliegenden Romans bat ziemlich vollständige Studien gemacht, aber
es ist ihm nicht gelungen, sie zu einem lebendigen Kunstwerk zu ver¬
arbeiten. —

Elisabeth oder Lebenswege. Von Anna von Berg. A Bände.
Weimar, T. F. A. Kühn. — Die Erzählung empfiehlt sich durch ihre anspruchslose
Haltung, durch die sorgfältige Ausarbeitung des Einzelnen und durch die ge¬
sunde, frische Lebensanschauung. Wenn sie auch eine tiefere Bedeutung nicht
beanspruchen darf, so ist eine solche Lectüre doch unendlich jenen schlechten
französischen Moderomanen vorzuziehen, durch welche die Phantasie unsers
Volks corrumpirt wird. —

Aus dem Leben und Dichten in Oesterreich. Gedichte und Novellen
"von Eh. L. Danis, L. Deutschinger, B. Schellinger, F.Wellen und I. P. Wie-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/110>, abgerufen am 15.06.2024.