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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Macht bewußt zu werden und den rechtlichen demokratischen Formen eine prak¬
tische Anwendung gab, wurde diese ungegliederte Masse ein Spielball in der
Hand dreister Demagogen. Noch ungesunder waren die bürgerlichen Einrich¬
tungen. Der freie Bauernstand war zum großen Theil verschwunden, der
große Grundbesitz war überwiegend in den Händen einzelner Familien, die
ihn als Plantagenbesitzer durch Sklaven anbauen ließen. Das Landproletariat
war noch gefährlicher, als das hauptstädtische. Neben der herrschenden Aristo¬
kratie des Senats hatte sich ein zweiter Stand gebildet, die Capitalisten, die
aller patriotischen Gesinnung bar, die Staatsverfassung lediglich zu ihren Specu-
lationen ausbeuteten. Sie gingen mit dem Senat Hand in Hand, so¬
lange dieser ihren Zwecken diente, waren aber schnell bereit, sich der
Opposition anzuschließen, sobald ihnen eine Förderung ihrer Interessen ver¬
heißen wurde. -- Die bürgerlichen Zustände konnten nur gebessert werden
durch eine ins Große ausgeführte Kolonisation^ wodurch daS Proletariat
wieder in einen arbeitsamen Bauernstand verwandelt wurde, theils durch eine
Ausdehnung des Bürgerrechts über Italien. Das erste mußte an dem Wider¬
stand jener großen Plantagenbesitzer scheitern, die den formalen Rechtsanspruch
des Staats auf ihre durch langen Besitzstand aus Domänen in Privateigen-
thum verwandelten Güter nicht zugeben konnten, das zweite an dem Widerstand
des hauptstädtischen Pöbels, der einer so ausgedehnten Concurrenz nicht günstig
,sein konnte, da man eben an eine Organisation des Bürgerrechts durch Ver¬
tretung nicht dachte. Jede Reform in diesem Sinn mußte zuletzt zu Gewalt¬
maßregeln führen. Darum waren selbst wohlgesinnte Patioten, wie Scipio
Aemilianus, ihr, abhold. Als aber in den Kriegen, die unmittelbar auf die
punischen folgten, die Unfähigkeit und Selbstsucht der herrschenden Classe die
bisherige Achtung untergraben hatte, mußte der Versuch dennoch gemacht wer¬
den. Er ging zunächst von einem conservativen Staatsmann, von Tiberius
Gracchus aus.

Die Austheilung der Domänen konnte durchgeführt werden ohne eine
Aenderung der bestehenden Auffassung. Es war eine ernste Verwaltungsfrage,
bei der, wie man auch entschied, schwere Uebelstände sich herausstellten. Zwar
das Eigenthum ward nicht verletzt. Anerkanntermaßen war der Staat Eigen¬
thümer des vccupirten Landes, und gegen ihn lief nach römischem Landrecht
die Verjährung nicht; aber der Jurist mochte sagen was er wollte, dem Ge¬
schäftsmann erschien die Maßregel als eine Expropriation der großen Grund¬
besitzer zum Besten des Proletariats. Noch gefährlicher war der Weg, den
Gracchus einschlug. Wer gegen den Senat eine VerwaltungSmaßregel durch¬
setzte, der machte Revolution. Es war Revolution gegen den Geist der Ver¬
fassung, als Gracchus die Domänenfrage vor das Volk brachte. Die souve¬
räne Volksversammlung war eine Masse, in welcher unter dem Namen der


Macht bewußt zu werden und den rechtlichen demokratischen Formen eine prak¬
tische Anwendung gab, wurde diese ungegliederte Masse ein Spielball in der
Hand dreister Demagogen. Noch ungesunder waren die bürgerlichen Einrich¬
tungen. Der freie Bauernstand war zum großen Theil verschwunden, der
große Grundbesitz war überwiegend in den Händen einzelner Familien, die
ihn als Plantagenbesitzer durch Sklaven anbauen ließen. Das Landproletariat
war noch gefährlicher, als das hauptstädtische. Neben der herrschenden Aristo¬
kratie des Senats hatte sich ein zweiter Stand gebildet, die Capitalisten, die
aller patriotischen Gesinnung bar, die Staatsverfassung lediglich zu ihren Specu-
lationen ausbeuteten. Sie gingen mit dem Senat Hand in Hand, so¬
lange dieser ihren Zwecken diente, waren aber schnell bereit, sich der
Opposition anzuschließen, sobald ihnen eine Förderung ihrer Interessen ver¬
heißen wurde. — Die bürgerlichen Zustände konnten nur gebessert werden
durch eine ins Große ausgeführte Kolonisation^ wodurch daS Proletariat
wieder in einen arbeitsamen Bauernstand verwandelt wurde, theils durch eine
Ausdehnung des Bürgerrechts über Italien. Das erste mußte an dem Wider¬
stand jener großen Plantagenbesitzer scheitern, die den formalen Rechtsanspruch
des Staats auf ihre durch langen Besitzstand aus Domänen in Privateigen-
thum verwandelten Güter nicht zugeben konnten, das zweite an dem Widerstand
des hauptstädtischen Pöbels, der einer so ausgedehnten Concurrenz nicht günstig
,sein konnte, da man eben an eine Organisation des Bürgerrechts durch Ver¬
tretung nicht dachte. Jede Reform in diesem Sinn mußte zuletzt zu Gewalt¬
maßregeln führen. Darum waren selbst wohlgesinnte Patioten, wie Scipio
Aemilianus, ihr, abhold. Als aber in den Kriegen, die unmittelbar auf die
punischen folgten, die Unfähigkeit und Selbstsucht der herrschenden Classe die
bisherige Achtung untergraben hatte, mußte der Versuch dennoch gemacht wer¬
den. Er ging zunächst von einem conservativen Staatsmann, von Tiberius
Gracchus aus.

Die Austheilung der Domänen konnte durchgeführt werden ohne eine
Aenderung der bestehenden Auffassung. Es war eine ernste Verwaltungsfrage,
bei der, wie man auch entschied, schwere Uebelstände sich herausstellten. Zwar
das Eigenthum ward nicht verletzt. Anerkanntermaßen war der Staat Eigen¬
thümer des vccupirten Landes, und gegen ihn lief nach römischem Landrecht
die Verjährung nicht; aber der Jurist mochte sagen was er wollte, dem Ge¬
schäftsmann erschien die Maßregel als eine Expropriation der großen Grund¬
besitzer zum Besten des Proletariats. Noch gefährlicher war der Weg, den
Gracchus einschlug. Wer gegen den Senat eine VerwaltungSmaßregel durch¬
setzte, der machte Revolution. Es war Revolution gegen den Geist der Ver¬
fassung, als Gracchus die Domänenfrage vor das Volk brachte. Die souve¬
räne Volksversammlung war eine Masse, in welcher unter dem Namen der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/15>, abgerufen am 22.05.2024.