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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Jene Krankheit und Kur ist der Gegenstand des vorletzten Kapitels des
1, Theils. Mit klarem Blick sieht der Biograph sich zunächst nach dem Ent¬
stehungsgrund der bis auf das Jahr 1503 zurückzuführenden Krankheit Hut-
tcns um. Dieser spricht an vielen Orten aufs unbefangenste von seinen Leiden,
deren Symptomen und Verlauf, auch von den nachtheiligen Einwirkungen,
welche unstäte, mühsalvolle und öfters mit Noth und Dürftigkeit ringende
Lebensweise auf seinen Körperzustand geübt habe, wie er auch gelegentlich sich
das Zeugniss giebt, nicht durch Unmäßigkeit oder Ausschweifung Verschlimme¬
rungen des Uebels verschuldet zu haben, dessen Entstehungsgrund er nicht sowol
verschweigt als vielmehr nirgend berührt, gleich als wäre es ihm angeboren.
Er sagt zwar selbst von der venerischen Krankheit, sie werde derzeit schwerlich
mehr ohne Ansteckung erzeugt; daß und wie er sie sich aber durch solche zu¬
gezogen habe, deutet er an keinem Orte an. Da nun Hütten und seine Zeit¬
genossen jenes Uebel für ebenso unehrenrührig ansahen, als wir etwa heutiges
Tags eine Lungenentzündung oder Unterleibsbeschwerden, und jener Zeit für
unanstößig galt was in gebildeten bürgerlichen Kreißen die unsrige mit sittli¬
chem Abscheu verwirft, so hält es Ser. für die moralische Beurtheilung uner¬
heblich, ob Hütten durch eine ihm nicht als solche erscheinende Ausschweifung
oder, "hiebei zwar zufällig frei ausgegangen, dafür aber ein ander Mal unschuldig
zu der Krankheit gekommen" sei. Die schmählichen Nachreden des von Hütten
in seiner Selbstsucht entblößten Erasmus, der wohl wußte, daß er die von ihm
abgelegten drei Gelübde selbst gebrochen habe, und (leider müßen wir es hin¬
zusetzen) Melcmchthons Beschimpfungen des todten Hütten machen mir noch
minder als unsrem Biographen eine Ausschweifung Huttens als Grund seiner
Krankheit wahrscheinlich; dagegen ist mir,von größerem Gewicht als die von
Ser. für Huttens Sinnlichkeit angeführten Stellen, die auch von ihm nicht
übergangene Thatsache, daß Hütten durchweg in seinen Schriften ungleich züch¬
tiger und Lascivitätcn abholder erscheint als viele seiner Zeitgenoßen, auf
deren Sittlichkeit kein Stein geworfen wird. Die ganz unhistorischen Jnvec-
tivcn materialistischer Geschichtschreiber der Medicin und die gleichartigen pfäf-
fischer Parteischriftstcllcr bleiben hier billig außer allem Betracht. Giebt man
auch zu, daß ein streng geregeltes Jugendleben mit Huttens geistiger Eigen¬
thümlichkeit schwerer als das Gegentheil zusammenzudenken ist, so scheint
doch der Schluß noch nicht gerechtfertigt, daß Hütten sich wirklich seine Krank¬
heit durch eine jugendliche Ausschweifung zugezogen habe, und wir müßen
bei einem Avr liyuet, beharren. Die Qualen der Krankheit und eilfmaliger
Kur, wie sie Ser. sehr geschickt Hütten nacherzählt, versuchen wir nicht zu
schildern, noch den Inhalt der zu Ende Mai 1518 verfaßten und dem Kur¬
fürsten Albert debitierten Schrift (Irmi-rei me;"ki".in:>. zu bezeichnen, sondern
bewundern lieber mit dem Biographen den gemeßencn Schritt der didaktischen


Jene Krankheit und Kur ist der Gegenstand des vorletzten Kapitels des
1, Theils. Mit klarem Blick sieht der Biograph sich zunächst nach dem Ent¬
stehungsgrund der bis auf das Jahr 1503 zurückzuführenden Krankheit Hut-
tcns um. Dieser spricht an vielen Orten aufs unbefangenste von seinen Leiden,
deren Symptomen und Verlauf, auch von den nachtheiligen Einwirkungen,
welche unstäte, mühsalvolle und öfters mit Noth und Dürftigkeit ringende
Lebensweise auf seinen Körperzustand geübt habe, wie er auch gelegentlich sich
das Zeugniss giebt, nicht durch Unmäßigkeit oder Ausschweifung Verschlimme¬
rungen des Uebels verschuldet zu haben, dessen Entstehungsgrund er nicht sowol
verschweigt als vielmehr nirgend berührt, gleich als wäre es ihm angeboren.
Er sagt zwar selbst von der venerischen Krankheit, sie werde derzeit schwerlich
mehr ohne Ansteckung erzeugt; daß und wie er sie sich aber durch solche zu¬
gezogen habe, deutet er an keinem Orte an. Da nun Hütten und seine Zeit¬
genossen jenes Uebel für ebenso unehrenrührig ansahen, als wir etwa heutiges
Tags eine Lungenentzündung oder Unterleibsbeschwerden, und jener Zeit für
unanstößig galt was in gebildeten bürgerlichen Kreißen die unsrige mit sittli¬
chem Abscheu verwirft, so hält es Ser. für die moralische Beurtheilung uner¬
heblich, ob Hütten durch eine ihm nicht als solche erscheinende Ausschweifung
oder, „hiebei zwar zufällig frei ausgegangen, dafür aber ein ander Mal unschuldig
zu der Krankheit gekommen" sei. Die schmählichen Nachreden des von Hütten
in seiner Selbstsucht entblößten Erasmus, der wohl wußte, daß er die von ihm
abgelegten drei Gelübde selbst gebrochen habe, und (leider müßen wir es hin¬
zusetzen) Melcmchthons Beschimpfungen des todten Hütten machen mir noch
minder als unsrem Biographen eine Ausschweifung Huttens als Grund seiner
Krankheit wahrscheinlich; dagegen ist mir,von größerem Gewicht als die von
Ser. für Huttens Sinnlichkeit angeführten Stellen, die auch von ihm nicht
übergangene Thatsache, daß Hütten durchweg in seinen Schriften ungleich züch¬
tiger und Lascivitätcn abholder erscheint als viele seiner Zeitgenoßen, auf
deren Sittlichkeit kein Stein geworfen wird. Die ganz unhistorischen Jnvec-
tivcn materialistischer Geschichtschreiber der Medicin und die gleichartigen pfäf-
fischer Parteischriftstcllcr bleiben hier billig außer allem Betracht. Giebt man
auch zu, daß ein streng geregeltes Jugendleben mit Huttens geistiger Eigen¬
thümlichkeit schwerer als das Gegentheil zusammenzudenken ist, so scheint
doch der Schluß noch nicht gerechtfertigt, daß Hütten sich wirklich seine Krank¬
heit durch eine jugendliche Ausschweifung zugezogen habe, und wir müßen
bei einem Avr liyuet, beharren. Die Qualen der Krankheit und eilfmaliger
Kur, wie sie Ser. sehr geschickt Hütten nacherzählt, versuchen wir nicht zu
schildern, noch den Inhalt der zu Ende Mai 1518 verfaßten und dem Kur¬
fürsten Albert debitierten Schrift (Irmi-rei me;«ki«.in:>. zu bezeichnen, sondern
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[0104] Jene Krankheit und Kur ist der Gegenstand des vorletzten Kapitels des 1, Theils. Mit klarem Blick sieht der Biograph sich zunächst nach dem Ent¬ stehungsgrund der bis auf das Jahr 1503 zurückzuführenden Krankheit Hut- tcns um. Dieser spricht an vielen Orten aufs unbefangenste von seinen Leiden, deren Symptomen und Verlauf, auch von den nachtheiligen Einwirkungen, welche unstäte, mühsalvolle und öfters mit Noth und Dürftigkeit ringende Lebensweise auf seinen Körperzustand geübt habe, wie er auch gelegentlich sich das Zeugniss giebt, nicht durch Unmäßigkeit oder Ausschweifung Verschlimme¬ rungen des Uebels verschuldet zu haben, dessen Entstehungsgrund er nicht sowol verschweigt als vielmehr nirgend berührt, gleich als wäre es ihm angeboren. Er sagt zwar selbst von der venerischen Krankheit, sie werde derzeit schwerlich mehr ohne Ansteckung erzeugt; daß und wie er sie sich aber durch solche zu¬ gezogen habe, deutet er an keinem Orte an. Da nun Hütten und seine Zeit¬ genossen jenes Uebel für ebenso unehrenrührig ansahen, als wir etwa heutiges Tags eine Lungenentzündung oder Unterleibsbeschwerden, und jener Zeit für unanstößig galt was in gebildeten bürgerlichen Kreißen die unsrige mit sittli¬ chem Abscheu verwirft, so hält es Ser. für die moralische Beurtheilung uner¬ heblich, ob Hütten durch eine ihm nicht als solche erscheinende Ausschweifung oder, „hiebei zwar zufällig frei ausgegangen, dafür aber ein ander Mal unschuldig zu der Krankheit gekommen" sei. Die schmählichen Nachreden des von Hütten in seiner Selbstsucht entblößten Erasmus, der wohl wußte, daß er die von ihm abgelegten drei Gelübde selbst gebrochen habe, und (leider müßen wir es hin¬ zusetzen) Melcmchthons Beschimpfungen des todten Hütten machen mir noch minder als unsrem Biographen eine Ausschweifung Huttens als Grund seiner Krankheit wahrscheinlich; dagegen ist mir,von größerem Gewicht als die von Ser. für Huttens Sinnlichkeit angeführten Stellen, die auch von ihm nicht übergangene Thatsache, daß Hütten durchweg in seinen Schriften ungleich züch¬ tiger und Lascivitätcn abholder erscheint als viele seiner Zeitgenoßen, auf deren Sittlichkeit kein Stein geworfen wird. Die ganz unhistorischen Jnvec- tivcn materialistischer Geschichtschreiber der Medicin und die gleichartigen pfäf- fischer Parteischriftstcllcr bleiben hier billig außer allem Betracht. Giebt man auch zu, daß ein streng geregeltes Jugendleben mit Huttens geistiger Eigen¬ thümlichkeit schwerer als das Gegentheil zusammenzudenken ist, so scheint doch der Schluß noch nicht gerechtfertigt, daß Hütten sich wirklich seine Krank¬ heit durch eine jugendliche Ausschweifung zugezogen habe, und wir müßen bei einem Avr liyuet, beharren. Die Qualen der Krankheit und eilfmaliger Kur, wie sie Ser. sehr geschickt Hütten nacherzählt, versuchen wir nicht zu schildern, noch den Inhalt der zu Ende Mai 1518 verfaßten und dem Kur¬ fürsten Albert debitierten Schrift (Irmi-rei me;«ki«.in:>. zu bezeichnen, sondern bewundern lieber mit dem Biographen den gemeßencn Schritt der didaktischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/104>, abgerufen am 30.05.2024.