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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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feine Gährung. welche die Excremente des Aberglaubens ausscheidet, ist eben
die Poesie, die wahre Magie der Individualisirung. welche durch seine andre
Kraft zu ersetzen ist. -- Wenn Lavater. um sich Gott nicht als eine leere Ab-
straction zu denken, um in ihm eine Person zu finden, den Wahlspruch auf¬
stellt: Christ oder Atheist! wenn er (schon 1774) sagt: "Ich rufe die Luft an.
wenn ich Gott außer Christo anrufe; ich liebe ein Ideal, wenn ich Gott außer
dem Menschen und dem menschlichsten Menschen, außer Christo, liebe;" wenn
er im "Pontius Pilatus" seine Begierde, berühmte Menschen aufzusuchen,
aus der geheimen Ahnung erklärt, "daß die Gottheit oder irgend ein höheres
Wesen denjenigen umschwebt, deren Namen viel tausend Zungen der Sterb¬
lichen in Bewegung setzt:" -- so ist das alles nur ein Ausweg, auf den der
Mangel an schöpferischer Kraft verfüllt, statt der poetischen Hypostasis die
äußere Inspiration zu suchen.

Dabei war die Ueberzeugung von der Persönlichkeit des Realen bei ihm keines¬
wegs so groß, um als unbedigt zu gelten. In dem schon erwähnten Brief an Ja-
cobi (13. Dec. 87) sagt er ausdrücklich: ..Der persönliche Gott ist nur eine Sil¬
houette Gottes, des unanschaubaren. Weltentragenden; nur ein relativer
Gott, ein Gott für Personen"; anders (nicht persönlich) organisirten Wesen offen¬
bare er sich anders. -- So sucht er auch hier Christenthum und Spinozismus
ZU verbinden, und hinter dem Gottmenschen die dunkle, nur in Abstractionen
zu fassende "Substanz"; wie denn überhaupt jede Physiognomik halb und halb
auf dem Boden der Naturphilosophie oder des Pantheismus steht. Denn
ob vom vergeistigter Körper oder vom verkörperten Geist die Rede ist: die
Idee einer nothwendigen Verbindung zwischen beiden schränkt die Idee
der Freiheit ein.

Es ist falsch, in dem Pantheismus nur ein metaphysisches Glaubens¬
system zu suchen: er ist eine eigenthümliche Anschauungs- und Sinnesart.
Es ist nicht gleichgültig für das ganze Lebensprinzip eines Menschen, ob er
mit Spinoza sagt: die Substanz (das Leben) ist Gott, oder mit Fichte: die
moralische Weltordnung ist Gott. Kehren wir die beiden Sätze um. so heißt
der eine: Gott ist die Quelle und das Maximum alles Lebens; der andere:
Gott ist der Richter über die Lebendigen und die Todten. Es kommt hier
gar nicht darauf an. wie man sich metaphysisch diese Sätze zurecht legt, son¬
dern nur auf die Gesinnung, die darin ausgesprochen wird. Während der
letzte Satz den Unterschied des Guten vom Bösen, die Pflicht des Menschen
zwischen beiden zu wählen und folglich die Idee der menschlichen Freiheit
scharf betont, hebt der erste, wenigstens annäherungsweise, diese Ideen auf.
Annäherungsweise: denn zu unbedingter Konsequenz kann keins dieser beiden
Systeme getrieben werden, wenn man nicht als einsamer Metaphysikus vom
wirklichen Leben ganz abstrahirt; schon darum nicht, weil die Coexistenz bei-


feine Gährung. welche die Excremente des Aberglaubens ausscheidet, ist eben
die Poesie, die wahre Magie der Individualisirung. welche durch seine andre
Kraft zu ersetzen ist. — Wenn Lavater. um sich Gott nicht als eine leere Ab-
straction zu denken, um in ihm eine Person zu finden, den Wahlspruch auf¬
stellt: Christ oder Atheist! wenn er (schon 1774) sagt: „Ich rufe die Luft an.
wenn ich Gott außer Christo anrufe; ich liebe ein Ideal, wenn ich Gott außer
dem Menschen und dem menschlichsten Menschen, außer Christo, liebe;" wenn
er im „Pontius Pilatus" seine Begierde, berühmte Menschen aufzusuchen,
aus der geheimen Ahnung erklärt, „daß die Gottheit oder irgend ein höheres
Wesen denjenigen umschwebt, deren Namen viel tausend Zungen der Sterb¬
lichen in Bewegung setzt:" — so ist das alles nur ein Ausweg, auf den der
Mangel an schöpferischer Kraft verfüllt, statt der poetischen Hypostasis die
äußere Inspiration zu suchen.

Dabei war die Ueberzeugung von der Persönlichkeit des Realen bei ihm keines¬
wegs so groß, um als unbedigt zu gelten. In dem schon erwähnten Brief an Ja-
cobi (13. Dec. 87) sagt er ausdrücklich: ..Der persönliche Gott ist nur eine Sil¬
houette Gottes, des unanschaubaren. Weltentragenden; nur ein relativer
Gott, ein Gott für Personen"; anders (nicht persönlich) organisirten Wesen offen¬
bare er sich anders. — So sucht er auch hier Christenthum und Spinozismus
ZU verbinden, und hinter dem Gottmenschen die dunkle, nur in Abstractionen
zu fassende „Substanz"; wie denn überhaupt jede Physiognomik halb und halb
auf dem Boden der Naturphilosophie oder des Pantheismus steht. Denn
ob vom vergeistigter Körper oder vom verkörperten Geist die Rede ist: die
Idee einer nothwendigen Verbindung zwischen beiden schränkt die Idee
der Freiheit ein.

Es ist falsch, in dem Pantheismus nur ein metaphysisches Glaubens¬
system zu suchen: er ist eine eigenthümliche Anschauungs- und Sinnesart.
Es ist nicht gleichgültig für das ganze Lebensprinzip eines Menschen, ob er
mit Spinoza sagt: die Substanz (das Leben) ist Gott, oder mit Fichte: die
moralische Weltordnung ist Gott. Kehren wir die beiden Sätze um. so heißt
der eine: Gott ist die Quelle und das Maximum alles Lebens; der andere:
Gott ist der Richter über die Lebendigen und die Todten. Es kommt hier
gar nicht darauf an. wie man sich metaphysisch diese Sätze zurecht legt, son¬
dern nur auf die Gesinnung, die darin ausgesprochen wird. Während der
letzte Satz den Unterschied des Guten vom Bösen, die Pflicht des Menschen
zwischen beiden zu wählen und folglich die Idee der menschlichen Freiheit
scharf betont, hebt der erste, wenigstens annäherungsweise, diese Ideen auf.
Annäherungsweise: denn zu unbedingter Konsequenz kann keins dieser beiden
Systeme getrieben werden, wenn man nicht als einsamer Metaphysikus vom
wirklichen Leben ganz abstrahirt; schon darum nicht, weil die Coexistenz bei-


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[0035] feine Gährung. welche die Excremente des Aberglaubens ausscheidet, ist eben die Poesie, die wahre Magie der Individualisirung. welche durch seine andre Kraft zu ersetzen ist. — Wenn Lavater. um sich Gott nicht als eine leere Ab- straction zu denken, um in ihm eine Person zu finden, den Wahlspruch auf¬ stellt: Christ oder Atheist! wenn er (schon 1774) sagt: „Ich rufe die Luft an. wenn ich Gott außer Christo anrufe; ich liebe ein Ideal, wenn ich Gott außer dem Menschen und dem menschlichsten Menschen, außer Christo, liebe;" wenn er im „Pontius Pilatus" seine Begierde, berühmte Menschen aufzusuchen, aus der geheimen Ahnung erklärt, „daß die Gottheit oder irgend ein höheres Wesen denjenigen umschwebt, deren Namen viel tausend Zungen der Sterb¬ lichen in Bewegung setzt:" — so ist das alles nur ein Ausweg, auf den der Mangel an schöpferischer Kraft verfüllt, statt der poetischen Hypostasis die äußere Inspiration zu suchen. Dabei war die Ueberzeugung von der Persönlichkeit des Realen bei ihm keines¬ wegs so groß, um als unbedigt zu gelten. In dem schon erwähnten Brief an Ja- cobi (13. Dec. 87) sagt er ausdrücklich: ..Der persönliche Gott ist nur eine Sil¬ houette Gottes, des unanschaubaren. Weltentragenden; nur ein relativer Gott, ein Gott für Personen"; anders (nicht persönlich) organisirten Wesen offen¬ bare er sich anders. — So sucht er auch hier Christenthum und Spinozismus ZU verbinden, und hinter dem Gottmenschen die dunkle, nur in Abstractionen zu fassende „Substanz"; wie denn überhaupt jede Physiognomik halb und halb auf dem Boden der Naturphilosophie oder des Pantheismus steht. Denn ob vom vergeistigter Körper oder vom verkörperten Geist die Rede ist: die Idee einer nothwendigen Verbindung zwischen beiden schränkt die Idee der Freiheit ein. Es ist falsch, in dem Pantheismus nur ein metaphysisches Glaubens¬ system zu suchen: er ist eine eigenthümliche Anschauungs- und Sinnesart. Es ist nicht gleichgültig für das ganze Lebensprinzip eines Menschen, ob er mit Spinoza sagt: die Substanz (das Leben) ist Gott, oder mit Fichte: die moralische Weltordnung ist Gott. Kehren wir die beiden Sätze um. so heißt der eine: Gott ist die Quelle und das Maximum alles Lebens; der andere: Gott ist der Richter über die Lebendigen und die Todten. Es kommt hier gar nicht darauf an. wie man sich metaphysisch diese Sätze zurecht legt, son¬ dern nur auf die Gesinnung, die darin ausgesprochen wird. Während der letzte Satz den Unterschied des Guten vom Bösen, die Pflicht des Menschen zwischen beiden zu wählen und folglich die Idee der menschlichen Freiheit scharf betont, hebt der erste, wenigstens annäherungsweise, diese Ideen auf. Annäherungsweise: denn zu unbedingter Konsequenz kann keins dieser beiden Systeme getrieben werden, wenn man nicht als einsamer Metaphysikus vom wirklichen Leben ganz abstrahirt; schon darum nicht, weil die Coexistenz bei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/35>, abgerufen am 15.05.2024.