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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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der Prinzipien, der Nothwendigkeit in der Natur und der Freiheit im Menschen,
sich jeden Augenblick handgreiflich geltend macht. Es kommt also viel weniger
darauf an, wie man wissenschaftlich diese Coexistenz erklärt, als welcher
der beiden Seiten man die ganze Energie seiner Seele zuwendet. Wenn
Goethe. Herder, Schelling die eine, Kant. Jacobi, Fichte die andre Seite aus¬
schließlich hervorhoben, so war es nicht ein bloßer Kampf um Schatte", ob¬
gleich alle diese Männer sich nicht immer klar machten, was das letzte Ziel
ihrer Gedanken war. Es war ferner sehr begreiflich, daß die erste Reihe sich
im Ganzen mehr gegen das Christenthum, die letzte dafür erklärte, weil in
dieser Religion das Hauptgewicht auf Christus, den Richter im jüngsten Ge¬
richt, gelegt wird. Freilich hat das Christenthum noch andre Seiten, und da¬
raus begreift sich, daß vou Zeit zu Zeit die Rollen wechselten.

Der Werth,, den man damals auf den Begriff des Genies zu legen an¬
fing, war ebenso geeignet, diese erste aller Lebensfragen in ein bestimmtes
Licht zu setzen, als sie zu verwirren. Denn mit dem Genie ist nothwendig
die Vorstellung einer gewissen Souveränetät verknüpft, einer Herrschaft über
die Naturbedingungen und damit scheint die Idee der persönlichen Freiheit
sich glänzender auf dem dunkeln Grunde der Natur hervorzuheben. Zugleich
aber wollte man die Entdeckung gemacht haben, daß die Hauptsache des
Genies eine bewußtlos, rein substanziell wirkende Kraft sei; ja. Goethe ging
zuletzt so weit zu behaupten, daß Alles, was das Genie als solches thue,
bewußtlos geschähe und daß der bewußte Wille sich nur in Nebensachen äu¬
ßern könne. Schiller, gegen den er dies äußerte, war damals von der mäch¬
tigen Persönlichkeit seines Freundes so hingerissen, daß er auf alle seine Ideen
einging; in ruhigen Augenblicken aber mußte seine eigne Erfahrung ihn leh¬
ren, daß der Künstler seiner Freiheit gar viel und nicht das Unwesentliche ver¬
danke. In der Moral verhielt es sich ganz ähnlich, wie in der Kunst: auch
hier verfocht Goethe, in seiner Jugend mit heftigem Ungestüm, in seinem Al¬
ter mit gelassner Milde, die pantheistische Idee von der Allgewalt der Natur-
kräfte; am entschiedensten in der ersten Ausgabe seiner stelln, deren seltsamer
Ausgang seinen bisherigen Freund Jacobi zu den Allwill-Papieren veranlaßte,
einer glänzenden Satyre gegen die Souveränetät des Genies in moralischen
Dingen, die vielleicht ebenso sehr, als die spätere Kreuzeserhöhung des Wol-
demar, den Bruch zwischen den beiden Freunden beschleunigte. Im Artung-
hello erkannte Goethe selbst, was für böse Früchte aus seiner Saat hervor?
gingen.

Auch Goethe blieb in seinem System nicht immer fest; aus seinen Kna-
benjahren erzählt er in Wahrheit und Dichtung den Versuch, einen Naturgott
symbolisch zu empfinden. Im Faust ist es anders. Dieses Werk, das von
seinem Ringen nach Gott, nach den verschiedenen Stadien, die es durchlief,


der Prinzipien, der Nothwendigkeit in der Natur und der Freiheit im Menschen,
sich jeden Augenblick handgreiflich geltend macht. Es kommt also viel weniger
darauf an, wie man wissenschaftlich diese Coexistenz erklärt, als welcher
der beiden Seiten man die ganze Energie seiner Seele zuwendet. Wenn
Goethe. Herder, Schelling die eine, Kant. Jacobi, Fichte die andre Seite aus¬
schließlich hervorhoben, so war es nicht ein bloßer Kampf um Schatte», ob¬
gleich alle diese Männer sich nicht immer klar machten, was das letzte Ziel
ihrer Gedanken war. Es war ferner sehr begreiflich, daß die erste Reihe sich
im Ganzen mehr gegen das Christenthum, die letzte dafür erklärte, weil in
dieser Religion das Hauptgewicht auf Christus, den Richter im jüngsten Ge¬
richt, gelegt wird. Freilich hat das Christenthum noch andre Seiten, und da¬
raus begreift sich, daß vou Zeit zu Zeit die Rollen wechselten.

Der Werth,, den man damals auf den Begriff des Genies zu legen an¬
fing, war ebenso geeignet, diese erste aller Lebensfragen in ein bestimmtes
Licht zu setzen, als sie zu verwirren. Denn mit dem Genie ist nothwendig
die Vorstellung einer gewissen Souveränetät verknüpft, einer Herrschaft über
die Naturbedingungen und damit scheint die Idee der persönlichen Freiheit
sich glänzender auf dem dunkeln Grunde der Natur hervorzuheben. Zugleich
aber wollte man die Entdeckung gemacht haben, daß die Hauptsache des
Genies eine bewußtlos, rein substanziell wirkende Kraft sei; ja. Goethe ging
zuletzt so weit zu behaupten, daß Alles, was das Genie als solches thue,
bewußtlos geschähe und daß der bewußte Wille sich nur in Nebensachen äu¬
ßern könne. Schiller, gegen den er dies äußerte, war damals von der mäch¬
tigen Persönlichkeit seines Freundes so hingerissen, daß er auf alle seine Ideen
einging; in ruhigen Augenblicken aber mußte seine eigne Erfahrung ihn leh¬
ren, daß der Künstler seiner Freiheit gar viel und nicht das Unwesentliche ver¬
danke. In der Moral verhielt es sich ganz ähnlich, wie in der Kunst: auch
hier verfocht Goethe, in seiner Jugend mit heftigem Ungestüm, in seinem Al¬
ter mit gelassner Milde, die pantheistische Idee von der Allgewalt der Natur-
kräfte; am entschiedensten in der ersten Ausgabe seiner stelln, deren seltsamer
Ausgang seinen bisherigen Freund Jacobi zu den Allwill-Papieren veranlaßte,
einer glänzenden Satyre gegen die Souveränetät des Genies in moralischen
Dingen, die vielleicht ebenso sehr, als die spätere Kreuzeserhöhung des Wol-
demar, den Bruch zwischen den beiden Freunden beschleunigte. Im Artung-
hello erkannte Goethe selbst, was für böse Früchte aus seiner Saat hervor?
gingen.

Auch Goethe blieb in seinem System nicht immer fest; aus seinen Kna-
benjahren erzählt er in Wahrheit und Dichtung den Versuch, einen Naturgott
symbolisch zu empfinden. Im Faust ist es anders. Dieses Werk, das von
seinem Ringen nach Gott, nach den verschiedenen Stadien, die es durchlief,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/36>, abgerufen am 15.05.2024.