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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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In Rom hatte man sich über die in England herrschende Stimmung voll¬
ständig getäuscht. Sobald Heinrich der Achte entschlossen war, sich gegen den
Ausspruch des Papstes auf sein Parlament zu stützen, war es mit der Au¬
torität des Papstes in England zu Ende. Das Volk empfand es sehr wohl,
daß die Interessen Englands der Entscheidung eines fremden Fürsten unter¬
worfen wurden. Der Kaiser, nicht der Papst war in Wirklichkeit der Richter,
der die Entscheidung gab. Hiergegen empörte sich mit eifersüchtigen Stolz das
Nationalgefühl der Engländer.

Wolscy's Plan war bis dahin eine französisch? Vermählung gewesen;
davon ist von nun an nicht mehr die Rede. Erst jetzt tritt Anna Boleyn
in den Vordergrund. Sie war eine Nichte des Herzogs von Norfolk und also
mit den vornehmsten Geschlechtern des Landes verwandt. Sie gehörte zu den
Ehrendamen der Königin Katharma, und ward bei Hofe wegen ihrer Talente
und ihrer Schönheit ausgezeichnet. Auf ebenbürtige Vermählungen legte man
in England kein großes Gewicht. Der ganze Adel nahm Partei für die Ver¬
bindung mit Anna Boleyn.

So war die Lage der Dinge, als am 3. November 1529 das Parlament
eröffnet wurde. Mit gespannter Erwartung blickte man den Verhandlungen
dieser Versammlung entgegen. Kaum das lange Parlament steht an histori¬
scher Bedeutung höher. Bis zum Jahre 1536 bestand dieses Parlament.
Bei jedem entscheidenden Schritt, durch welchen England sich weiter von dem
Zusammenhang mit dem Papstthum löste, stand diese Versammlung mit un¬
erschütterlicher Festigkeit auf der Seite des Königs. Man sieht, in welcher
Richtung der Strom der öffentlichen Meinung ging. In manchen anderen
Punkten machte das Parlament lebhafte Opposition; aber in der Tendenz ge¬
gen die Uebergriffe der geistlichen Gewalt war es noch entschiedener als der
König selbst. Seit lange war man unzufrieden über die ungehörigen Exem-
tionen der Geistlichen von der weltlichen Gerichtsbarkeit, und noch mehr über
die Mißbräuche und Uebergriffe der geistlichen Gerichtsbarkeit. Die geistliche
Jurisdiction war bei der unter den Geistlichen herrschenden Sittenlosigkeit um
so unerträglicher. Abgesehen von dem unzüchtigen Verkehr zwischen Mönchen
und Nonnen, der zur Tagesordnung gehörte, finden wir bei Fronde Beispiele
von dem abscheulichsten Mißbrauch des Beichtstuhls. Es gab sogar damals
in London besondere Bordelle für den ausschließlichen Gebrauch von Geist¬
lichen.

Kein Wunder, daß sich das Parlament zuerst gegen diese Mißbräuche
wandte. Das Unterhaus eröffnete seine Thätigkeit mit einer ausführlichen
Beschwerde gegen die geistlichen Gerichtshöfe; der König wird gebeten, die
bisherigen Mißbräuche abzustellen und durch gute Gesetze seine geistlichen und
weltlichen Unterthanen mit einander zu versöhnen, die Uebertreter aber mit den


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In Rom hatte man sich über die in England herrschende Stimmung voll¬
ständig getäuscht. Sobald Heinrich der Achte entschlossen war, sich gegen den
Ausspruch des Papstes auf sein Parlament zu stützen, war es mit der Au¬
torität des Papstes in England zu Ende. Das Volk empfand es sehr wohl,
daß die Interessen Englands der Entscheidung eines fremden Fürsten unter¬
worfen wurden. Der Kaiser, nicht der Papst war in Wirklichkeit der Richter,
der die Entscheidung gab. Hiergegen empörte sich mit eifersüchtigen Stolz das
Nationalgefühl der Engländer.

Wolscy's Plan war bis dahin eine französisch? Vermählung gewesen;
davon ist von nun an nicht mehr die Rede. Erst jetzt tritt Anna Boleyn
in den Vordergrund. Sie war eine Nichte des Herzogs von Norfolk und also
mit den vornehmsten Geschlechtern des Landes verwandt. Sie gehörte zu den
Ehrendamen der Königin Katharma, und ward bei Hofe wegen ihrer Talente
und ihrer Schönheit ausgezeichnet. Auf ebenbürtige Vermählungen legte man
in England kein großes Gewicht. Der ganze Adel nahm Partei für die Ver¬
bindung mit Anna Boleyn.

So war die Lage der Dinge, als am 3. November 1529 das Parlament
eröffnet wurde. Mit gespannter Erwartung blickte man den Verhandlungen
dieser Versammlung entgegen. Kaum das lange Parlament steht an histori¬
scher Bedeutung höher. Bis zum Jahre 1536 bestand dieses Parlament.
Bei jedem entscheidenden Schritt, durch welchen England sich weiter von dem
Zusammenhang mit dem Papstthum löste, stand diese Versammlung mit un¬
erschütterlicher Festigkeit auf der Seite des Königs. Man sieht, in welcher
Richtung der Strom der öffentlichen Meinung ging. In manchen anderen
Punkten machte das Parlament lebhafte Opposition; aber in der Tendenz ge¬
gen die Uebergriffe der geistlichen Gewalt war es noch entschiedener als der
König selbst. Seit lange war man unzufrieden über die ungehörigen Exem-
tionen der Geistlichen von der weltlichen Gerichtsbarkeit, und noch mehr über
die Mißbräuche und Uebergriffe der geistlichen Gerichtsbarkeit. Die geistliche
Jurisdiction war bei der unter den Geistlichen herrschenden Sittenlosigkeit um
so unerträglicher. Abgesehen von dem unzüchtigen Verkehr zwischen Mönchen
und Nonnen, der zur Tagesordnung gehörte, finden wir bei Fronde Beispiele
von dem abscheulichsten Mißbrauch des Beichtstuhls. Es gab sogar damals
in London besondere Bordelle für den ausschließlichen Gebrauch von Geist¬
lichen.

Kein Wunder, daß sich das Parlament zuerst gegen diese Mißbräuche
wandte. Das Unterhaus eröffnete seine Thätigkeit mit einer ausführlichen
Beschwerde gegen die geistlichen Gerichtshöfe; der König wird gebeten, die
bisherigen Mißbräuche abzustellen und durch gute Gesetze seine geistlichen und
weltlichen Unterthanen mit einander zu versöhnen, die Uebertreter aber mit den


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[0459] In Rom hatte man sich über die in England herrschende Stimmung voll¬ ständig getäuscht. Sobald Heinrich der Achte entschlossen war, sich gegen den Ausspruch des Papstes auf sein Parlament zu stützen, war es mit der Au¬ torität des Papstes in England zu Ende. Das Volk empfand es sehr wohl, daß die Interessen Englands der Entscheidung eines fremden Fürsten unter¬ worfen wurden. Der Kaiser, nicht der Papst war in Wirklichkeit der Richter, der die Entscheidung gab. Hiergegen empörte sich mit eifersüchtigen Stolz das Nationalgefühl der Engländer. Wolscy's Plan war bis dahin eine französisch? Vermählung gewesen; davon ist von nun an nicht mehr die Rede. Erst jetzt tritt Anna Boleyn in den Vordergrund. Sie war eine Nichte des Herzogs von Norfolk und also mit den vornehmsten Geschlechtern des Landes verwandt. Sie gehörte zu den Ehrendamen der Königin Katharma, und ward bei Hofe wegen ihrer Talente und ihrer Schönheit ausgezeichnet. Auf ebenbürtige Vermählungen legte man in England kein großes Gewicht. Der ganze Adel nahm Partei für die Ver¬ bindung mit Anna Boleyn. So war die Lage der Dinge, als am 3. November 1529 das Parlament eröffnet wurde. Mit gespannter Erwartung blickte man den Verhandlungen dieser Versammlung entgegen. Kaum das lange Parlament steht an histori¬ scher Bedeutung höher. Bis zum Jahre 1536 bestand dieses Parlament. Bei jedem entscheidenden Schritt, durch welchen England sich weiter von dem Zusammenhang mit dem Papstthum löste, stand diese Versammlung mit un¬ erschütterlicher Festigkeit auf der Seite des Königs. Man sieht, in welcher Richtung der Strom der öffentlichen Meinung ging. In manchen anderen Punkten machte das Parlament lebhafte Opposition; aber in der Tendenz ge¬ gen die Uebergriffe der geistlichen Gewalt war es noch entschiedener als der König selbst. Seit lange war man unzufrieden über die ungehörigen Exem- tionen der Geistlichen von der weltlichen Gerichtsbarkeit, und noch mehr über die Mißbräuche und Uebergriffe der geistlichen Gerichtsbarkeit. Die geistliche Jurisdiction war bei der unter den Geistlichen herrschenden Sittenlosigkeit um so unerträglicher. Abgesehen von dem unzüchtigen Verkehr zwischen Mönchen und Nonnen, der zur Tagesordnung gehörte, finden wir bei Fronde Beispiele von dem abscheulichsten Mißbrauch des Beichtstuhls. Es gab sogar damals in London besondere Bordelle für den ausschließlichen Gebrauch von Geist¬ lichen. Kein Wunder, daß sich das Parlament zuerst gegen diese Mißbräuche wandte. Das Unterhaus eröffnete seine Thätigkeit mit einer ausführlichen Beschwerde gegen die geistlichen Gerichtshöfe; der König wird gebeten, die bisherigen Mißbräuche abzustellen und durch gute Gesetze seine geistlichen und weltlichen Unterthanen mit einander zu versöhnen, die Uebertreter aber mit den 57*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/459>, abgerufen am 16.06.2024.