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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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wie in seiner Sinnesart den Advocaten ausprägt, steht jetzt im vierundfünf-
zigsten Lebensjahr und gehört, in Alessandria geboren, wie Cavour dem alten
Piemont an. Sich dem Studium der Rechte widmend, zeichnete er sich bald
durch die Gabe der Rede und großen Scharfsinn aus, der indeß Sophismen
nicht für ungebührlich hielt. Noch vor Cavour gelangte er zu einem Minister¬
posten. 1849 war er der Leiter des Cabinets, welches nach der Schlacht bei
Custozza den traurigen Frieden mit Oestreich unterzeichnen mußte. Im Decem¬
ber 1849 erzielte d'Azeglio eine ministerielle Mehrheit, deren Hauptführer
Cavour war. während Rattazzi aus der Linken ein linkes Centrum (wi^o xa,r-
titv) loslöste. Das war die rechte Stellung für ihn: "Oppositionsmann, aber
nicht unmöglich für das Cabinet. Kandidat für ein erledigtes Portefeuille, eine
Art Thiers gegen Guizot," bezeichnete ihn kürzlich eine Biographie nicht unrichtig.

Als Cavour 1850 zum ersten Mal Minister wurde, unterstützte er die
Wahl Rattazzi's zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses, und als er bald
nachher ein neues Cabinet bildete, gab er diesem 1853 sogar das Departement
der Justiz, welches er 1855 mit dem des Innern vertauschte.

Als der Kaiser Napoleon so plötzlich den Frieden von Villafranca abschloß
und Cavour darauf seine Entlassung nahm, wurde Rattazzi Premier und ver¬
ließ diesen Posten erst wieder, als Savoyen und Nizza abgetreten werden soll¬
ten. Im Jahre 1861 bevorwortete Cavour den früheren Collegen im Mini¬
sterrath bei seiner Bewerbung um den Präsidentenstuhl des Nationalparlamcnts,
den er später auch unter Ricasoli innehatte. Er ist ein ausgezeichneter Leiter
der Debatte, sehr ruhig, unparteiisch und sehr geeignet, die unter diesen südlichen
Naturen nicht selten ins Schwanken gerathende Ordnung aufrecht zu erhalten.

Als Ricasoli sich mit seiner ehrenfester Hartnäckigkeit in den Tuilerien
unbequem gemacht, ohne doch Napoleon dem Dritten zu imponiren, als die
römische Frage trotz aller Bemühungen des italienischen Premiers nicht von
der Stelle rückte, begab sich --- im vorigen Herbst -- Rattazzi nach Compiegne,
und Viele erblickten in dieser Reise ein zweites Plombiöres und die Absicht,
gestützt auf erkaufte französische Hilfe die italienische Bewegung wieder in Gang
zu bringen und ihren letzten Zielen zuzuführen.

Von diesen Vermuthungen hat sich bis jetzt keine erfüllt. Auch möchten
wir nicht annehmen, daß Rattazzi in der Lage sein würde, der französischen
Politik Zugeständnisse wie jene Abtretung Savoyens und Nizza's zu machen.
Wohl aber ist er jetzt an die Spitze des Cabinets getreten, und es fragt sich,
wieviel das bedeutet.

In dieser Hinsicht ist zunächst zu bemerken, daß der neue italienische Pre¬
mier keine Natur und kein Talent für eine großartige Rolle ist, und daß er bei
keiner Partei aufrichtiges und volles Vertrauen genießt. Mehre von den Col¬
lege", die er sich gewählt, stehen in der öffentlichen Meinung klarer und höher


wie in seiner Sinnesart den Advocaten ausprägt, steht jetzt im vierundfünf-
zigsten Lebensjahr und gehört, in Alessandria geboren, wie Cavour dem alten
Piemont an. Sich dem Studium der Rechte widmend, zeichnete er sich bald
durch die Gabe der Rede und großen Scharfsinn aus, der indeß Sophismen
nicht für ungebührlich hielt. Noch vor Cavour gelangte er zu einem Minister¬
posten. 1849 war er der Leiter des Cabinets, welches nach der Schlacht bei
Custozza den traurigen Frieden mit Oestreich unterzeichnen mußte. Im Decem¬
ber 1849 erzielte d'Azeglio eine ministerielle Mehrheit, deren Hauptführer
Cavour war. während Rattazzi aus der Linken ein linkes Centrum (wi^o xa,r-
titv) loslöste. Das war die rechte Stellung für ihn: „Oppositionsmann, aber
nicht unmöglich für das Cabinet. Kandidat für ein erledigtes Portefeuille, eine
Art Thiers gegen Guizot," bezeichnete ihn kürzlich eine Biographie nicht unrichtig.

Als Cavour 1850 zum ersten Mal Minister wurde, unterstützte er die
Wahl Rattazzi's zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses, und als er bald
nachher ein neues Cabinet bildete, gab er diesem 1853 sogar das Departement
der Justiz, welches er 1855 mit dem des Innern vertauschte.

Als der Kaiser Napoleon so plötzlich den Frieden von Villafranca abschloß
und Cavour darauf seine Entlassung nahm, wurde Rattazzi Premier und ver¬
ließ diesen Posten erst wieder, als Savoyen und Nizza abgetreten werden soll¬
ten. Im Jahre 1861 bevorwortete Cavour den früheren Collegen im Mini¬
sterrath bei seiner Bewerbung um den Präsidentenstuhl des Nationalparlamcnts,
den er später auch unter Ricasoli innehatte. Er ist ein ausgezeichneter Leiter
der Debatte, sehr ruhig, unparteiisch und sehr geeignet, die unter diesen südlichen
Naturen nicht selten ins Schwanken gerathende Ordnung aufrecht zu erhalten.

Als Ricasoli sich mit seiner ehrenfester Hartnäckigkeit in den Tuilerien
unbequem gemacht, ohne doch Napoleon dem Dritten zu imponiren, als die
römische Frage trotz aller Bemühungen des italienischen Premiers nicht von
der Stelle rückte, begab sich —- im vorigen Herbst — Rattazzi nach Compiegne,
und Viele erblickten in dieser Reise ein zweites Plombiöres und die Absicht,
gestützt auf erkaufte französische Hilfe die italienische Bewegung wieder in Gang
zu bringen und ihren letzten Zielen zuzuführen.

Von diesen Vermuthungen hat sich bis jetzt keine erfüllt. Auch möchten
wir nicht annehmen, daß Rattazzi in der Lage sein würde, der französischen
Politik Zugeständnisse wie jene Abtretung Savoyens und Nizza's zu machen.
Wohl aber ist er jetzt an die Spitze des Cabinets getreten, und es fragt sich,
wieviel das bedeutet.

In dieser Hinsicht ist zunächst zu bemerken, daß der neue italienische Pre¬
mier keine Natur und kein Talent für eine großartige Rolle ist, und daß er bei
keiner Partei aufrichtiges und volles Vertrauen genießt. Mehre von den Col¬
lege», die er sich gewählt, stehen in der öffentlichen Meinung klarer und höher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/495>, abgerufen am 23.05.2024.