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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Und gerade vor diesem schönen Drama haben wir aufs Neue empfunden,
wie ganz eigen unser Volk zu seiner Geschichte steht, wie vertraut und zugleich
wie fremd die Jugend unsres Volkes uns erscheint. Jene jugendliche Naivetät
des Naturlebens, welche sich im Drama schon wegen seiner klaren bewußten
Kunstform nur leise andeuten läßt und nur in der Breite des Epos zu ihrem
vollen Rechte kommt -- sie ist es, die noch heute das Gemüth des Deutschen
zu seinen alten Mythen hinzieht. Was "der des Dramatikers eigentliche Auf¬
gabe bildet, das Gemüthsleben dieser epischen Zeit, das ist uns in solchem
Maße fremd geworden, daß wir dreist behaupten können, ein Trauerspiel aus
der französischen oder italienischen Gegenwart dürfe sich heute mit größerem
Rechte ein deutsches Trauerspiel nennen als eine Dramatisirung der Nibe¬
lungensage.

Dem Dramatiker sind, weil seine Kunst gewaltiger als irgend eine andere
den ganzen Menschen erschüttert, engere Schranken gesetzt bei der Wahl seiner
Stoffe als dem Maler oder dem erzählenden Dichter; und dieser Einsicht voll
hat sicher schon mancher moderne Poet der reizenden Versuchung dieser Fabel
widerstanden. So gewiß wir beim Hören von Uhlands Ballade "Jung Sieg¬
fried" uns willig in die alte Wunderwelt versenken, ebenso gewiß ruft das
Drama den Verstand zum schonungsloser Mitsprechen auf. Wenn Hagen
Tronje durch Siegfrieds Ermordung die Schmach Brunhilds zu rächen geht,
obgleich er weiß, daß Brunhilds Blut erstarren wird, wenn Siegfrieds Blut
gefriert, so kommt es uns freilich nicht bei, dem Hagen zuzurufen: das ist
Widersinn -- denn wir denken gar nicht daran, diesen Recken mit unserem
Maße zu messen -- aber wir nehmen sein Verfahren hin wie ein unabänder¬
liches Naturereignis) und meinen im Stillen: den Mann verstehn wir nicht.
Indem Hebbel seine Recken gänzlich aus der Welt unsers. Denkens und Em¬
pfindens heraushob, hat er zwar, wie gesagt, den einzigen Ton angeschlagen,
der diesem Stoffe geziemt, doch er hat zugleich verzichtet auf die höchste Lust
des Dramatikers, daß die Hörer fortwährend mit seinen Helden leiden und
denken, sie treiben oder zurückhalten möchten. Allerdings bietet dies Drama
auch mehre Charaktere, welche uns völlig verständlich sind, namentlich den
Charakter der Kriemhild, den nach unsrem Gefühle schönsten des Werkes --
wie ja auch Shakespeare in dieser alten Sagenzeit mehre Stoffe von rein
menschlichem für alle Zeiten gültigen Gehalte gesunden hat. Aber daneben
stehen sehr viele Züge eines halb bewußtlosen Menschenlebens, das "keinen
Grund braucht" für sein Handeln, während der heutige Zuschauer sich doch
fortwährend im Stillen nach den Gründen fragt. Und diese ungeheure Kluft,
welche unser Empfinden von dem Seelenleben der epischen Tage trennt, sie
hindert uns, ganz unbefangen theilzunehmen an dem Schicksale der Nibelungen,
sie läßt Hebbels schönes Werk nicht zu einer ganz reinen Wirkung gelangen.


Und gerade vor diesem schönen Drama haben wir aufs Neue empfunden,
wie ganz eigen unser Volk zu seiner Geschichte steht, wie vertraut und zugleich
wie fremd die Jugend unsres Volkes uns erscheint. Jene jugendliche Naivetät
des Naturlebens, welche sich im Drama schon wegen seiner klaren bewußten
Kunstform nur leise andeuten läßt und nur in der Breite des Epos zu ihrem
vollen Rechte kommt — sie ist es, die noch heute das Gemüth des Deutschen
zu seinen alten Mythen hinzieht. Was «der des Dramatikers eigentliche Auf¬
gabe bildet, das Gemüthsleben dieser epischen Zeit, das ist uns in solchem
Maße fremd geworden, daß wir dreist behaupten können, ein Trauerspiel aus
der französischen oder italienischen Gegenwart dürfe sich heute mit größerem
Rechte ein deutsches Trauerspiel nennen als eine Dramatisirung der Nibe¬
lungensage.

Dem Dramatiker sind, weil seine Kunst gewaltiger als irgend eine andere
den ganzen Menschen erschüttert, engere Schranken gesetzt bei der Wahl seiner
Stoffe als dem Maler oder dem erzählenden Dichter; und dieser Einsicht voll
hat sicher schon mancher moderne Poet der reizenden Versuchung dieser Fabel
widerstanden. So gewiß wir beim Hören von Uhlands Ballade „Jung Sieg¬
fried" uns willig in die alte Wunderwelt versenken, ebenso gewiß ruft das
Drama den Verstand zum schonungsloser Mitsprechen auf. Wenn Hagen
Tronje durch Siegfrieds Ermordung die Schmach Brunhilds zu rächen geht,
obgleich er weiß, daß Brunhilds Blut erstarren wird, wenn Siegfrieds Blut
gefriert, so kommt es uns freilich nicht bei, dem Hagen zuzurufen: das ist
Widersinn — denn wir denken gar nicht daran, diesen Recken mit unserem
Maße zu messen — aber wir nehmen sein Verfahren hin wie ein unabänder¬
liches Naturereignis) und meinen im Stillen: den Mann verstehn wir nicht.
Indem Hebbel seine Recken gänzlich aus der Welt unsers. Denkens und Em¬
pfindens heraushob, hat er zwar, wie gesagt, den einzigen Ton angeschlagen,
der diesem Stoffe geziemt, doch er hat zugleich verzichtet auf die höchste Lust
des Dramatikers, daß die Hörer fortwährend mit seinen Helden leiden und
denken, sie treiben oder zurückhalten möchten. Allerdings bietet dies Drama
auch mehre Charaktere, welche uns völlig verständlich sind, namentlich den
Charakter der Kriemhild, den nach unsrem Gefühle schönsten des Werkes —
wie ja auch Shakespeare in dieser alten Sagenzeit mehre Stoffe von rein
menschlichem für alle Zeiten gültigen Gehalte gesunden hat. Aber daneben
stehen sehr viele Züge eines halb bewußtlosen Menschenlebens, das „keinen
Grund braucht" für sein Handeln, während der heutige Zuschauer sich doch
fortwährend im Stillen nach den Gründen fragt. Und diese ungeheure Kluft,
welche unser Empfinden von dem Seelenleben der epischen Tage trennt, sie
hindert uns, ganz unbefangen theilzunehmen an dem Schicksale der Nibelungen,
sie läßt Hebbels schönes Werk nicht zu einer ganz reinen Wirkung gelangen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/186>, abgerufen am 29.05.2024.