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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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rische Vorschriften die officiellen Gesetze aufstellen, weiß Jeder. Ich erinnere nur
an den oft citirten Paragraph der Göttinger: "Wer sich soweit vergißt sich zu betrin-
ken. soll auch ohne Rücksicht auf die Folgen, nach den Umständen mit Carcerstrafe
oder Wegweisung bestraft werden." Von solchen Bestimmungen wimmelt es
überall, und auf solche Gesetze läßt man jeden Studenten durch Handschlag an
Eides Statt verpflichten. Besonders muß er meist versprechen keiner Verbindung
beizutreten, während er oft bei dem feierlichen Acte schon ganz vergnügt das
Band umhängen hat. Ein Prorector verpflichtete die Neuzugehenden auf die
Gesetze mit Ausnahme derer, welche als veraltet zu betrachten seien. Damit
war zwar die ganze Sache zwecklos gemacht, da natürlich Jeder für veraltet
halten konnte, was er wollte; aber es war doch so das Schlimmste vermieden,
die Abtödtung jedes Gefühls für die Heiligkeit eines feierlich gegebenen Worts.
Ein anderer beseitigte diesen Uebelstand noch einfacher, indem er den jungen
Commilitonen nur das Versprechen abnahm, die Gesetze einmal zu lesen, und
ihnen so die gewissenlos machende Unklarheit dessen, was sie nun zu halten
sich verpflichtet hätten, ganz ersparte. Wenige sind darum so besorgt. Denn
nicht nur deuten die meisten, nach abgethaner Förmlichkeit persönlich befragt,
offen an, daß es nicht aus alles so genau ankommt, sondern viele scheuen sich
auch nicht, die officiösen Gesetze, die nicht geschrieben sind, aber mit mehr Treue
gepflegt werden, z. B. die Ordnungsmäßigkeit der Duelle geradezu einzuschärfen.
Natürlich kann dergleichen nicht öffentlich ausgesprochen werden, weil es jedem
gemeinen Rechte Hohn spricht. Doch fehlt es selbst im erklärten Gesetze nicht an gro¬
ben Ungerechtigkeiten gegen Privatinteressen z. B. in den sogenannten Creditedicten.
Natürlich ist bei der Unaussprechlichkeit und dem Schwanken der Normen des¬
sen, was als Recht gilt, der persönlichen Willkür viel Raum gelassen und kann
deshalb auch von einem gleichmäßigen Gerichtsgebrauch keine Rede sein, so daß
es also sür den akademischen Bürger unmöglich ist, jemals zum Gefühle einer
festen Rechtssicherheit zu gelangen. Die willkürliche Weiterbildung des anstatt
der Gesetze geltenden Gebrauchs erhält aber ihre stärkste Förderung von dem
Triebe der verschiedenen Universitäten, es sich darin zuvorzuthun. Ueber die
Concurrenz in der Herabstimmung der Forderungen für die Ertheilung des
Doctortitels ist kürzlich ein heiliger Eifer entbrannt; über die Concurrenz in
Toleranz gegen studentische Rohheit, durch welche die Frequenz mancher Univer¬
sitäten gehoben wird, schreit Niemand; und doch handelt es sich hier nicht um
den Mißbrauch eines leeren Titels, sondern um die systematische Verwilderung
der kommenden Generation.

Doch diese unmittelbar praktischen Folgen sind nicht die schlimmste Wirkung
der regellosen Rechtsverhältnisse der Universitäten, sondern der hemmende Ein¬
fluß, den sie auf die Ausbildung einer staatsbürgerlichen Gesinnung und
Achtung vor dem Gesetz im Bewußtsein aller Betheiligten dadurch ausüben, daß


rische Vorschriften die officiellen Gesetze aufstellen, weiß Jeder. Ich erinnere nur
an den oft citirten Paragraph der Göttinger: „Wer sich soweit vergißt sich zu betrin-
ken. soll auch ohne Rücksicht auf die Folgen, nach den Umständen mit Carcerstrafe
oder Wegweisung bestraft werden." Von solchen Bestimmungen wimmelt es
überall, und auf solche Gesetze läßt man jeden Studenten durch Handschlag an
Eides Statt verpflichten. Besonders muß er meist versprechen keiner Verbindung
beizutreten, während er oft bei dem feierlichen Acte schon ganz vergnügt das
Band umhängen hat. Ein Prorector verpflichtete die Neuzugehenden auf die
Gesetze mit Ausnahme derer, welche als veraltet zu betrachten seien. Damit
war zwar die ganze Sache zwecklos gemacht, da natürlich Jeder für veraltet
halten konnte, was er wollte; aber es war doch so das Schlimmste vermieden,
die Abtödtung jedes Gefühls für die Heiligkeit eines feierlich gegebenen Worts.
Ein anderer beseitigte diesen Uebelstand noch einfacher, indem er den jungen
Commilitonen nur das Versprechen abnahm, die Gesetze einmal zu lesen, und
ihnen so die gewissenlos machende Unklarheit dessen, was sie nun zu halten
sich verpflichtet hätten, ganz ersparte. Wenige sind darum so besorgt. Denn
nicht nur deuten die meisten, nach abgethaner Förmlichkeit persönlich befragt,
offen an, daß es nicht aus alles so genau ankommt, sondern viele scheuen sich
auch nicht, die officiösen Gesetze, die nicht geschrieben sind, aber mit mehr Treue
gepflegt werden, z. B. die Ordnungsmäßigkeit der Duelle geradezu einzuschärfen.
Natürlich kann dergleichen nicht öffentlich ausgesprochen werden, weil es jedem
gemeinen Rechte Hohn spricht. Doch fehlt es selbst im erklärten Gesetze nicht an gro¬
ben Ungerechtigkeiten gegen Privatinteressen z. B. in den sogenannten Creditedicten.
Natürlich ist bei der Unaussprechlichkeit und dem Schwanken der Normen des¬
sen, was als Recht gilt, der persönlichen Willkür viel Raum gelassen und kann
deshalb auch von einem gleichmäßigen Gerichtsgebrauch keine Rede sein, so daß
es also sür den akademischen Bürger unmöglich ist, jemals zum Gefühle einer
festen Rechtssicherheit zu gelangen. Die willkürliche Weiterbildung des anstatt
der Gesetze geltenden Gebrauchs erhält aber ihre stärkste Förderung von dem
Triebe der verschiedenen Universitäten, es sich darin zuvorzuthun. Ueber die
Concurrenz in der Herabstimmung der Forderungen für die Ertheilung des
Doctortitels ist kürzlich ein heiliger Eifer entbrannt; über die Concurrenz in
Toleranz gegen studentische Rohheit, durch welche die Frequenz mancher Univer¬
sitäten gehoben wird, schreit Niemand; und doch handelt es sich hier nicht um
den Mißbrauch eines leeren Titels, sondern um die systematische Verwilderung
der kommenden Generation.

Doch diese unmittelbar praktischen Folgen sind nicht die schlimmste Wirkung
der regellosen Rechtsverhältnisse der Universitäten, sondern der hemmende Ein¬
fluß, den sie auf die Ausbildung einer staatsbürgerlichen Gesinnung und
Achtung vor dem Gesetz im Bewußtsein aller Betheiligten dadurch ausüben, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/53>, abgerufen am 31.05.2024.