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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Städte der Küste und auf die Dörfer des Binnenlandes kommen. Die Mehr¬
zahl sind Rabbaniten, doch leben hier auch eine beträchtliche Anzahl von Ka¬
nnten, die namentlich in der sonst nur von Schellöchen bewohnten großen und
wohlhabenden Stadt Diann in der Provinz Erhammena angesiedelt sind.
Die ältesten, wahrscheinlich schon in der Römerzeit hierher gewandert, wohnen
in den Gebirgen unter den Amazirghen und nennen sich selbst Pilistiner. Die
in den Seestädten ansässigen sind Sephardim, die zu Ende des funfzehnten
Jahrhunderts aus Spanien und Portugal hier eintrafen. Jene treiben vor¬
züglich Ackerbau und Viehzucht, diese, zum Theil sehr wohlhabend, sind meist
Kaufleute, Makler, Dolmetscher und Handwerker. Alle marokkanischen Juden
werden von selbstgewählten jüdischen Kälber nach ihren eignen Gesetzen regiert,
die wieder von einem durch den Sultan ernannten obersten Schech abhängen.
Die in Tednest erfreuen sich großer Vorrechte, und die in Rabatt haben fast
den ganzen auswärtigen Handel in den Händen. Die übrigen dagegen, na¬
mentlich die unter den Mauren lebenden, sind größter Verachtung und Mi߬
handlung ausgesetzt. Sie dürfen nicht arabisch lesen und schreiben lernen, nur
Maulthiere und Esel reiten, nur dunkle Farben tragen, sich in Gegenwart
eines Moslim nicht niedersetzen, sich keinem Brunnen nahen wenn ein Recht¬
gläubiger daraus trinkt, vor Moscheen nicht anders als barfuß vorübergehen.
Sie sind ferner schwer besteuert, müssen Hcnkerdienste thun u-ut die Leichname
der Verurtheilten begruben. Die Straßenjugend verspottet, der Pöbel schlägt
sie, ohne daß sie Gleiches mit Gleichem vergelten dürften. Sie rächen sich da-
für, indem sie die Mauren so viel als thunlich hinters Licht führen, und dies
gelingt ihnen fast immer; denn das Sprichwort hat Recht, daß die Juden von
Fez und Marokko alle übrigen an List übertreffen.

Außer den genannten Landstrichen Afrikas gibt es in diesem Welttheil noch
Juden in Sennaar und in Sudan sowie in Loango und vor Allem in Ha-
besch, über welche letzteren wir später ausführlich berichten werden. In Asien
aber sind sie bis in den fernen Osten verbreitet. Wir treffen deren in Afgha¬
nistan, wo sie von Kabul bis "ach Indien handeln, in der Bucharei. wo sie
bürgerliche Freiheiten genießen und sich als Metallarbeiter und Seidenwebcr
auszeichnen, in Ostindien, wo sie in Kranganor schon um 600 n. Chr. er¬
wähnt werden, in Kochinchina, wo sie vermuthlich mit den Portugiesen Fuß
faßten und wo sie sich von Ackerbau und Handwerken nähren. Selbst in
China und in der Tartarei findet man einzelne jüdische Gemeinden.

Nicht unmöglich, aber bis jetzt unerweislich ist, daß unter diesen ostasiati-
schen Juden sich Reste der verlorenen zehn Stämmen befinden. Die Mythen-
'bildung aber, die sich an alles schwer Erklärliche knüpft, ist damit nicht zu¬
frieden gewesen und hat so alle wenig bekannten Binnenländer südlich, west¬
lich und östlich von dem einstigen Exil der Bewohner des Reichs Israel


Städte der Küste und auf die Dörfer des Binnenlandes kommen. Die Mehr¬
zahl sind Rabbaniten, doch leben hier auch eine beträchtliche Anzahl von Ka¬
nnten, die namentlich in der sonst nur von Schellöchen bewohnten großen und
wohlhabenden Stadt Diann in der Provinz Erhammena angesiedelt sind.
Die ältesten, wahrscheinlich schon in der Römerzeit hierher gewandert, wohnen
in den Gebirgen unter den Amazirghen und nennen sich selbst Pilistiner. Die
in den Seestädten ansässigen sind Sephardim, die zu Ende des funfzehnten
Jahrhunderts aus Spanien und Portugal hier eintrafen. Jene treiben vor¬
züglich Ackerbau und Viehzucht, diese, zum Theil sehr wohlhabend, sind meist
Kaufleute, Makler, Dolmetscher und Handwerker. Alle marokkanischen Juden
werden von selbstgewählten jüdischen Kälber nach ihren eignen Gesetzen regiert,
die wieder von einem durch den Sultan ernannten obersten Schech abhängen.
Die in Tednest erfreuen sich großer Vorrechte, und die in Rabatt haben fast
den ganzen auswärtigen Handel in den Händen. Die übrigen dagegen, na¬
mentlich die unter den Mauren lebenden, sind größter Verachtung und Mi߬
handlung ausgesetzt. Sie dürfen nicht arabisch lesen und schreiben lernen, nur
Maulthiere und Esel reiten, nur dunkle Farben tragen, sich in Gegenwart
eines Moslim nicht niedersetzen, sich keinem Brunnen nahen wenn ein Recht¬
gläubiger daraus trinkt, vor Moscheen nicht anders als barfuß vorübergehen.
Sie sind ferner schwer besteuert, müssen Hcnkerdienste thun u-ut die Leichname
der Verurtheilten begruben. Die Straßenjugend verspottet, der Pöbel schlägt
sie, ohne daß sie Gleiches mit Gleichem vergelten dürften. Sie rächen sich da-
für, indem sie die Mauren so viel als thunlich hinters Licht führen, und dies
gelingt ihnen fast immer; denn das Sprichwort hat Recht, daß die Juden von
Fez und Marokko alle übrigen an List übertreffen.

Außer den genannten Landstrichen Afrikas gibt es in diesem Welttheil noch
Juden in Sennaar und in Sudan sowie in Loango und vor Allem in Ha-
besch, über welche letzteren wir später ausführlich berichten werden. In Asien
aber sind sie bis in den fernen Osten verbreitet. Wir treffen deren in Afgha¬
nistan, wo sie von Kabul bis »ach Indien handeln, in der Bucharei. wo sie
bürgerliche Freiheiten genießen und sich als Metallarbeiter und Seidenwebcr
auszeichnen, in Ostindien, wo sie in Kranganor schon um 600 n. Chr. er¬
wähnt werden, in Kochinchina, wo sie vermuthlich mit den Portugiesen Fuß
faßten und wo sie sich von Ackerbau und Handwerken nähren. Selbst in
China und in der Tartarei findet man einzelne jüdische Gemeinden.

Nicht unmöglich, aber bis jetzt unerweislich ist, daß unter diesen ostasiati-
schen Juden sich Reste der verlorenen zehn Stämmen befinden. Die Mythen-
'bildung aber, die sich an alles schwer Erklärliche knüpft, ist damit nicht zu¬
frieden gewesen und hat so alle wenig bekannten Binnenländer südlich, west¬
lich und östlich von dem einstigen Exil der Bewohner des Reichs Israel


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[0077] Städte der Küste und auf die Dörfer des Binnenlandes kommen. Die Mehr¬ zahl sind Rabbaniten, doch leben hier auch eine beträchtliche Anzahl von Ka¬ nnten, die namentlich in der sonst nur von Schellöchen bewohnten großen und wohlhabenden Stadt Diann in der Provinz Erhammena angesiedelt sind. Die ältesten, wahrscheinlich schon in der Römerzeit hierher gewandert, wohnen in den Gebirgen unter den Amazirghen und nennen sich selbst Pilistiner. Die in den Seestädten ansässigen sind Sephardim, die zu Ende des funfzehnten Jahrhunderts aus Spanien und Portugal hier eintrafen. Jene treiben vor¬ züglich Ackerbau und Viehzucht, diese, zum Theil sehr wohlhabend, sind meist Kaufleute, Makler, Dolmetscher und Handwerker. Alle marokkanischen Juden werden von selbstgewählten jüdischen Kälber nach ihren eignen Gesetzen regiert, die wieder von einem durch den Sultan ernannten obersten Schech abhängen. Die in Tednest erfreuen sich großer Vorrechte, und die in Rabatt haben fast den ganzen auswärtigen Handel in den Händen. Die übrigen dagegen, na¬ mentlich die unter den Mauren lebenden, sind größter Verachtung und Mi߬ handlung ausgesetzt. Sie dürfen nicht arabisch lesen und schreiben lernen, nur Maulthiere und Esel reiten, nur dunkle Farben tragen, sich in Gegenwart eines Moslim nicht niedersetzen, sich keinem Brunnen nahen wenn ein Recht¬ gläubiger daraus trinkt, vor Moscheen nicht anders als barfuß vorübergehen. Sie sind ferner schwer besteuert, müssen Hcnkerdienste thun u-ut die Leichname der Verurtheilten begruben. Die Straßenjugend verspottet, der Pöbel schlägt sie, ohne daß sie Gleiches mit Gleichem vergelten dürften. Sie rächen sich da- für, indem sie die Mauren so viel als thunlich hinters Licht führen, und dies gelingt ihnen fast immer; denn das Sprichwort hat Recht, daß die Juden von Fez und Marokko alle übrigen an List übertreffen. Außer den genannten Landstrichen Afrikas gibt es in diesem Welttheil noch Juden in Sennaar und in Sudan sowie in Loango und vor Allem in Ha- besch, über welche letzteren wir später ausführlich berichten werden. In Asien aber sind sie bis in den fernen Osten verbreitet. Wir treffen deren in Afgha¬ nistan, wo sie von Kabul bis »ach Indien handeln, in der Bucharei. wo sie bürgerliche Freiheiten genießen und sich als Metallarbeiter und Seidenwebcr auszeichnen, in Ostindien, wo sie in Kranganor schon um 600 n. Chr. er¬ wähnt werden, in Kochinchina, wo sie vermuthlich mit den Portugiesen Fuß faßten und wo sie sich von Ackerbau und Handwerken nähren. Selbst in China und in der Tartarei findet man einzelne jüdische Gemeinden. Nicht unmöglich, aber bis jetzt unerweislich ist, daß unter diesen ostasiati- schen Juden sich Reste der verlorenen zehn Stämmen befinden. Die Mythen- 'bildung aber, die sich an alles schwer Erklärliche knüpft, ist damit nicht zu¬ frieden gewesen und hat so alle wenig bekannten Binnenländer südlich, west¬ lich und östlich von dem einstigen Exil der Bewohner des Reichs Israel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/77>, abgerufen am 31.05.2024.