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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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erblickten. Bald circulirte ein Brief von ihm an die Herrscher des Abend¬
landes und Papst Alexander hat wirklich eine Gesandtschaft an ihn abgesendet,
über deren Schicksale wir freilich nicht unterrichtet sind. Eng zusammen mit
den Kreuzzügen hängt auch die vielbekannte Geschichte des Grafen von Gleichen,
dem 1227 auf einer Pilgerfahrt nach dem gelobten Lande eine Türkin das
Leben und die Freiheit rettete, und der dieselbe dann mit in seine Heimath
brachte und nach einem Uebereinkommen mit seiner Gemahlin als seine zweite
Frau proclamirte, welche Bigamie dann auch wirklich der Papst zuließ. Sein
Bett und sein und seiner zwei Frauen Leichensteine wurden lange in Erfurt ge¬
zeigt. Doch ist die ganze Anekdote erst seit dem Ende des sechzehnten Jahr¬
hundert in Cours gesetzt worden. Fromme Gemüther haben mit Recht schon
immer an der Voraussetzung Anstoß genommen, daß ein Papst solche Doppel¬
ehe habe gutheißen können.

Schlesien hat bekanntlich in dem Tartareneinfall gleichsam ein Widerspiel
der Kreuzzüge erlebt, statt der sonstigen Kriegsfahrten nach dem Morgenlande
ist hier das Morgenland zu uns gekommen, und die Schlesier haben sich der
entsetzlichen Gäste sehr schwer erwehren können. Auch hier fehlt es nicht an
Sagen, die uns immer aufs Neue bald ganz unbefangen, bald mit dem Vor¬
behalt eines "es soll" oder "wie die Sage erzählt" in den Geschichtserzählungen
aufgetischt werden. Da erfahren wir von der Ermordung einer durchreisenden
tartarischen Fürstin in Neumarkt, welche dann den Rachezug ihrer Landsleute
veranlaßt, sowie, von der schrecklichen Waffe der Tartaren in der Schlacht b"i
Wahlstatt, einem Ungeheuerkopfe, dem ein erstickender Dampf entquollen sei,
welcher den Christen die Besinnung geraubt habe. Alles dies ist unglaubwürdige
Erfindung späterer Chronisten, die Säcke mit abgeschnittenen Christenohren nicht
ausgeschlossen, welche neuerdings wieder in den schlestschen Provinzialblättern
gespukt haben.

Freilich auch anderwärts pflegt man an gewissen eingebürgerten Geschichten
aller Kritik zum Trotze festzuhalten. Dies gilt z. B. von einer der zahlreichen
Erzählungen, deren Schauplatz die ehrwürdige Wartburg war. Landgraf Al¬
brecht der Entartete wollte, so heißt es, verführt durch seine arglistige Buhle,
seine Gemahlin, eine Tochter Kaiser Friedrichs des Zweiten, ermorden lassen,
doch der gedungene Mörder, ein Eselstreiber, wird von Reue erfaßt, warnt die
Landgräfin und verhilft ihr selbst zur Flucht. Beim Abschiede aber von ihren zwei
schlafenden Kindern beißt sie von Schmerz übermannt den ältesten in die Wange,
daß die Narbe und davon der Beiname ihm für immer bleibt. So vielfach
nun die Geschichte auch in Bild und Lied verherrlicht worden ist, so können
wir uns in Wahrheit doch nur freuen, daß sie nicht wahr ist und wir uns nicht
mit dem psychologischen Räthsel zu Plagen brauchen, wie es denkbar wäre, daß
eine zärtliche Mutter ihr schlafendes Kind so grausam verletzen könne.


erblickten. Bald circulirte ein Brief von ihm an die Herrscher des Abend¬
landes und Papst Alexander hat wirklich eine Gesandtschaft an ihn abgesendet,
über deren Schicksale wir freilich nicht unterrichtet sind. Eng zusammen mit
den Kreuzzügen hängt auch die vielbekannte Geschichte des Grafen von Gleichen,
dem 1227 auf einer Pilgerfahrt nach dem gelobten Lande eine Türkin das
Leben und die Freiheit rettete, und der dieselbe dann mit in seine Heimath
brachte und nach einem Uebereinkommen mit seiner Gemahlin als seine zweite
Frau proclamirte, welche Bigamie dann auch wirklich der Papst zuließ. Sein
Bett und sein und seiner zwei Frauen Leichensteine wurden lange in Erfurt ge¬
zeigt. Doch ist die ganze Anekdote erst seit dem Ende des sechzehnten Jahr¬
hundert in Cours gesetzt worden. Fromme Gemüther haben mit Recht schon
immer an der Voraussetzung Anstoß genommen, daß ein Papst solche Doppel¬
ehe habe gutheißen können.

Schlesien hat bekanntlich in dem Tartareneinfall gleichsam ein Widerspiel
der Kreuzzüge erlebt, statt der sonstigen Kriegsfahrten nach dem Morgenlande
ist hier das Morgenland zu uns gekommen, und die Schlesier haben sich der
entsetzlichen Gäste sehr schwer erwehren können. Auch hier fehlt es nicht an
Sagen, die uns immer aufs Neue bald ganz unbefangen, bald mit dem Vor¬
behalt eines „es soll" oder „wie die Sage erzählt" in den Geschichtserzählungen
aufgetischt werden. Da erfahren wir von der Ermordung einer durchreisenden
tartarischen Fürstin in Neumarkt, welche dann den Rachezug ihrer Landsleute
veranlaßt, sowie, von der schrecklichen Waffe der Tartaren in der Schlacht b«i
Wahlstatt, einem Ungeheuerkopfe, dem ein erstickender Dampf entquollen sei,
welcher den Christen die Besinnung geraubt habe. Alles dies ist unglaubwürdige
Erfindung späterer Chronisten, die Säcke mit abgeschnittenen Christenohren nicht
ausgeschlossen, welche neuerdings wieder in den schlestschen Provinzialblättern
gespukt haben.

Freilich auch anderwärts pflegt man an gewissen eingebürgerten Geschichten
aller Kritik zum Trotze festzuhalten. Dies gilt z. B. von einer der zahlreichen
Erzählungen, deren Schauplatz die ehrwürdige Wartburg war. Landgraf Al¬
brecht der Entartete wollte, so heißt es, verführt durch seine arglistige Buhle,
seine Gemahlin, eine Tochter Kaiser Friedrichs des Zweiten, ermorden lassen,
doch der gedungene Mörder, ein Eselstreiber, wird von Reue erfaßt, warnt die
Landgräfin und verhilft ihr selbst zur Flucht. Beim Abschiede aber von ihren zwei
schlafenden Kindern beißt sie von Schmerz übermannt den ältesten in die Wange,
daß die Narbe und davon der Beiname ihm für immer bleibt. So vielfach
nun die Geschichte auch in Bild und Lied verherrlicht worden ist, so können
wir uns in Wahrheit doch nur freuen, daß sie nicht wahr ist und wir uns nicht
mit dem psychologischen Räthsel zu Plagen brauchen, wie es denkbar wäre, daß
eine zärtliche Mutter ihr schlafendes Kind so grausam verletzen könne.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/11>, abgerufen am 17.06.2024.