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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Ein anderes psychologisches Problem stellt uns die Sage von Teils Apfel-
schuß vor, denn mehr als eine Sage ist auch dies nicht; die gleichzeitigen Chro¬
nisten, die den Freiheitskampf der Schweizer erzählen, wissen nichts davon und
erst Jahrhunderte später hat irgendein wenig gewissenhafter Annalist die nor¬
dische Sage von Palnatoke, welche die bekannte Erzählung Zug um Zug wieder¬
gibt, in schweizerisches Gewand gekleidet einzubürgern vermocht. Es mag noch
heutzutage auf einer Schweizerreise nicht überall gerathen sein, diese Ueber¬
zeugung laut werden zu lassen, doch die gebildeten Schweizer haben der Mehr¬
zahl nach schon ihren Nationalhclden fallen gelassen. Desto fester aber haben
sie einmüthig für einen anderen Helden gekämpft, jenen Winkelried, der in der
Schlacht bei Sempach mit seinem Herzblute der Freiheit eine Gasse machte,
und wirklich ist der östreichische Historiker, der auch diesen in das Reich der
Mythe verweisen wollte, unterlegen.

Fast in derselben Zeit wie Tell spielt eine an die Schlacht bei Mühldorf
anknüpfende Geschichte. Der siegreiche Kaiser Ludwig der Baier habe, so seist
es, nach der Schlacht Hunger leiden müssen, Lebensmittel seien nirgends auf¬
zutreiben gewesen, bis man endlich einen Korb mit Eiern herbeigebracht, welche
dann der Kaiser redlich mit seiner Umgebung getheilt habe, so daß auf jeden
eins gekommen sei. Das einzige dann übrige habe er seinem getreuen Feld¬
herrn Schweppermann, dem erden Sieg hauptsächlich verdankte, mit den Wor¬
ten gereicht: "jedem Mann ein El, dem braven Schweppermann aber zwei".
Die späte Entstehung der Geschichte vernichtet auch hier den Credit, der Histo¬
riker Palacky erklärt sie für eine läppische Erfindung.

Nur vorübergehend möge einer ganzen Reihe von Geschichten Erwähnung
gethan werden, welche sämmtlich darauf hinauslaufen, einem großen Manne
oder einem ganzen Herrschergeschlecht einen dunklen und niedrigen Ursprung zu¬
zuschreiben. Im Mittelalter wo die Standesunterschiede eine so tief ein¬
schneidende Bedeutung hatten, wie wir es uns jetzt kaum mehr vorstellen können
und eine nicht leicht zu überspringende Kluft den Niedriggebornen von den
Großen der Erde schied, hatte es einen eignen abenteuerlichen Reiz, einen stolz und
hoch emporgeschossenen Baum aus dem unscheinbarsten Samenkorn hervorgegangen
zu denken, und die Chronikenschreiber, welche von ihrer stillen Zelle aus
die großen Thaten der Mächtigen schilderten, verweilen mit einem gewissen
moralischen Behagen bei der Darstellung eines solchen Wechsels der Dinge,
solchen Spieles der Gegensätze, wo jemand aus den dunkelsten Tiefen zu den
höchsten Höhen des Lebens jäh emporgerissen wird. So entstanden die Sagen
von den Stammvätern des polnisch-schlesischen und des böhmischen Herrscher¬
geschlechts Piast und Przemisl. so die von der bäuerischen Abkunft des sächsischen
Herzoghauses der Billunger und des stolzen Geschlechts der Colonna in Rom
von einem durch das Finden eines Schatzes reich gewordenen Schmiede, so er-


Ein anderes psychologisches Problem stellt uns die Sage von Teils Apfel-
schuß vor, denn mehr als eine Sage ist auch dies nicht; die gleichzeitigen Chro¬
nisten, die den Freiheitskampf der Schweizer erzählen, wissen nichts davon und
erst Jahrhunderte später hat irgendein wenig gewissenhafter Annalist die nor¬
dische Sage von Palnatoke, welche die bekannte Erzählung Zug um Zug wieder¬
gibt, in schweizerisches Gewand gekleidet einzubürgern vermocht. Es mag noch
heutzutage auf einer Schweizerreise nicht überall gerathen sein, diese Ueber¬
zeugung laut werden zu lassen, doch die gebildeten Schweizer haben der Mehr¬
zahl nach schon ihren Nationalhclden fallen gelassen. Desto fester aber haben
sie einmüthig für einen anderen Helden gekämpft, jenen Winkelried, der in der
Schlacht bei Sempach mit seinem Herzblute der Freiheit eine Gasse machte,
und wirklich ist der östreichische Historiker, der auch diesen in das Reich der
Mythe verweisen wollte, unterlegen.

Fast in derselben Zeit wie Tell spielt eine an die Schlacht bei Mühldorf
anknüpfende Geschichte. Der siegreiche Kaiser Ludwig der Baier habe, so seist
es, nach der Schlacht Hunger leiden müssen, Lebensmittel seien nirgends auf¬
zutreiben gewesen, bis man endlich einen Korb mit Eiern herbeigebracht, welche
dann der Kaiser redlich mit seiner Umgebung getheilt habe, so daß auf jeden
eins gekommen sei. Das einzige dann übrige habe er seinem getreuen Feld¬
herrn Schweppermann, dem erden Sieg hauptsächlich verdankte, mit den Wor¬
ten gereicht: „jedem Mann ein El, dem braven Schweppermann aber zwei".
Die späte Entstehung der Geschichte vernichtet auch hier den Credit, der Histo¬
riker Palacky erklärt sie für eine läppische Erfindung.

Nur vorübergehend möge einer ganzen Reihe von Geschichten Erwähnung
gethan werden, welche sämmtlich darauf hinauslaufen, einem großen Manne
oder einem ganzen Herrschergeschlecht einen dunklen und niedrigen Ursprung zu¬
zuschreiben. Im Mittelalter wo die Standesunterschiede eine so tief ein¬
schneidende Bedeutung hatten, wie wir es uns jetzt kaum mehr vorstellen können
und eine nicht leicht zu überspringende Kluft den Niedriggebornen von den
Großen der Erde schied, hatte es einen eignen abenteuerlichen Reiz, einen stolz und
hoch emporgeschossenen Baum aus dem unscheinbarsten Samenkorn hervorgegangen
zu denken, und die Chronikenschreiber, welche von ihrer stillen Zelle aus
die großen Thaten der Mächtigen schilderten, verweilen mit einem gewissen
moralischen Behagen bei der Darstellung eines solchen Wechsels der Dinge,
solchen Spieles der Gegensätze, wo jemand aus den dunkelsten Tiefen zu den
höchsten Höhen des Lebens jäh emporgerissen wird. So entstanden die Sagen
von den Stammvätern des polnisch-schlesischen und des böhmischen Herrscher¬
geschlechts Piast und Przemisl. so die von der bäuerischen Abkunft des sächsischen
Herzoghauses der Billunger und des stolzen Geschlechts der Colonna in Rom
von einem durch das Finden eines Schatzes reich gewordenen Schmiede, so er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/12>, abgerufen am 17.06.2024.