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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Walde der Baum gezeigt wird, an dem Siegfried erstochen wurde. Sind doch
ebenfalls die beiden in den meisten Geschichtsbüchern aufgeführten Anführer
der Angelsachsen bei ihrem Zuge nach England, Hengist und Horsa, rein
mythische Persönlichfeiten.

Aber auch Karl der Große ist zum Helden der Sage geworden, ihn um¬
giebt ein weiter Kreis von Mythen, und vieles davon ist lange Zeit für
historische Wahrheit angesehen worden. Glaubte man doch bis in die Neuzeit
die Aufzeichnungen eines Zeitgenossen, eines Theilnehmers der Tafelrunde des
großen Königs, den Erzbischof Turpin zu besitzen, bis die Kritik das ganze
Buch als ein Machwerk des späteren Mittelalters erkannte. Jetzt freilich muß
man schon ein älteres Geschichtsbuch sich hervorsuchen, um noch die schöne Er¬
zählung zu finden, wie Karls Tochter Emma des Nachts ihren Geliebten Egin-
hard auf ihren Schultern über den Hof der kaiserlichen Pfalz trägt, damit
nicht seine Fußtapfen auf dem frisch gefallenen Schnee ihre Zusammenkunft
verrathen. Auch von Karls Zuge nach Jerusalem Pflegen wir auch nur aus
Uhlands schöner Ballade: "König Karls Meerfahrt" zu hören. Aber noch viele
neue Geschichtsbücher haben der Versuchung nicht widerstehen können, aus dem
fast unerschöpflichen Reichthum der Sage etwas hinüberzuretten in die ärmlich
bedachte Geschichte, und es mag Vielen unbekannt sein, daß z. B. von dem
großen Helden Roland kaum die Existenz eines Helden dieses Namens glaub¬
würdig überliefert ist, und daß von der Roncevalschlacht, die schon ein Dichter
des zwölften Jahrhunderts so ergreifend zu besingen wußte, die historische Kritik
nur die dürre Thatsache übriggelassen hat, daß im Jahre 778 bei einem Ueber¬
falle des fränkischen Heeres durch kriegerische Gebirgsvölker der Pyrenäen viele
angesehene Männer aus des Königs Gefolge ihren Tod gefunden haben. In
die letzte Zeit der Karolinger gehört auch noch die Sage von dem Erzbischof
Hatto, den zur Strafe seiner Grausamkeit und Hartherzigkeit die Mäuse überall
verfolgten, und der selbst, als er sich bei Bingen auf einer Insel den allen
Rheinreisenden erinnerlichen Mäusethurm hatte erbauen lassen, seinen Verfolgern
nicht zu entgehen vermochte. Die Entstehung der Sage ist nicht zu erklären,
wir kennen keinen Umstand aus Halloh Leben, an den sie sich hätte anlehnen
können. Uebrigens hat sie ihr vollkommenes Seitenstück an der polnischen
Sage von König Popiel und dem Mäusethurm im Goplosee.

Und nun weiter; wer hätte nicht von Heinrich dem Finkler oder Vogel¬
steller und zugleich dem Städtegründer gehört? In Wahrheit verdient er keinen
dieser Namen; daß er Städte gegründet, zu deren Vertheidigung darin einen
Theil des vom Lande hereingerufenen Adels mit besonderen Freiheiten angesiedelt
und so eigentlich auch das städtische Patriziat geschaffen habe, ist eine irrige
Meinung, entstanden aus dem Mißverständniß einer Stelle, welche aber nur
von der Anlegung von Burgen, nicht von Städten spricht; und daß er vom


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Walde der Baum gezeigt wird, an dem Siegfried erstochen wurde. Sind doch
ebenfalls die beiden in den meisten Geschichtsbüchern aufgeführten Anführer
der Angelsachsen bei ihrem Zuge nach England, Hengist und Horsa, rein
mythische Persönlichfeiten.

Aber auch Karl der Große ist zum Helden der Sage geworden, ihn um¬
giebt ein weiter Kreis von Mythen, und vieles davon ist lange Zeit für
historische Wahrheit angesehen worden. Glaubte man doch bis in die Neuzeit
die Aufzeichnungen eines Zeitgenossen, eines Theilnehmers der Tafelrunde des
großen Königs, den Erzbischof Turpin zu besitzen, bis die Kritik das ganze
Buch als ein Machwerk des späteren Mittelalters erkannte. Jetzt freilich muß
man schon ein älteres Geschichtsbuch sich hervorsuchen, um noch die schöne Er¬
zählung zu finden, wie Karls Tochter Emma des Nachts ihren Geliebten Egin-
hard auf ihren Schultern über den Hof der kaiserlichen Pfalz trägt, damit
nicht seine Fußtapfen auf dem frisch gefallenen Schnee ihre Zusammenkunft
verrathen. Auch von Karls Zuge nach Jerusalem Pflegen wir auch nur aus
Uhlands schöner Ballade: „König Karls Meerfahrt" zu hören. Aber noch viele
neue Geschichtsbücher haben der Versuchung nicht widerstehen können, aus dem
fast unerschöpflichen Reichthum der Sage etwas hinüberzuretten in die ärmlich
bedachte Geschichte, und es mag Vielen unbekannt sein, daß z. B. von dem
großen Helden Roland kaum die Existenz eines Helden dieses Namens glaub¬
würdig überliefert ist, und daß von der Roncevalschlacht, die schon ein Dichter
des zwölften Jahrhunderts so ergreifend zu besingen wußte, die historische Kritik
nur die dürre Thatsache übriggelassen hat, daß im Jahre 778 bei einem Ueber¬
falle des fränkischen Heeres durch kriegerische Gebirgsvölker der Pyrenäen viele
angesehene Männer aus des Königs Gefolge ihren Tod gefunden haben. In
die letzte Zeit der Karolinger gehört auch noch die Sage von dem Erzbischof
Hatto, den zur Strafe seiner Grausamkeit und Hartherzigkeit die Mäuse überall
verfolgten, und der selbst, als er sich bei Bingen auf einer Insel den allen
Rheinreisenden erinnerlichen Mäusethurm hatte erbauen lassen, seinen Verfolgern
nicht zu entgehen vermochte. Die Entstehung der Sage ist nicht zu erklären,
wir kennen keinen Umstand aus Halloh Leben, an den sie sich hätte anlehnen
können. Uebrigens hat sie ihr vollkommenes Seitenstück an der polnischen
Sage von König Popiel und dem Mäusethurm im Goplosee.

Und nun weiter; wer hätte nicht von Heinrich dem Finkler oder Vogel¬
steller und zugleich dem Städtegründer gehört? In Wahrheit verdient er keinen
dieser Namen; daß er Städte gegründet, zu deren Vertheidigung darin einen
Theil des vom Lande hereingerufenen Adels mit besonderen Freiheiten angesiedelt
und so eigentlich auch das städtische Patriziat geschaffen habe, ist eine irrige
Meinung, entstanden aus dem Mißverständniß einer Stelle, welche aber nur
von der Anlegung von Burgen, nicht von Städten spricht; und daß er vom


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/9>, abgerufen am 17.06.2024.