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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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deren freundlichem und anregendem Geleite er dort eingezogen war. Daß er
aber mit den Ultras unter seinen Freunden in beiden Lagern, z. B. mit Stahl
hüben und Bettina drüben, den Verkehr möglichst beschränkte und endlich ganz
abbrach, verstand sich für ihn von selbst, obgleich es ihm menschlich leid that.

So kam das ersehnte Ende des ersten Winters heran. Noch durfte zwar
von einem eigentlichen Scheitern aller Hoffnungen nicht die Rede sein, aber es
stand doch so. daß Rückert die ersten trockenen und sonnigen Märztage mit noch
viel innigerer Freude als sonst begrüßte, weil sie ihm es ermöglichten, aus der
großen Stadt nach Neuses zu eilen. Es gehörte zu den liberalen Bedingungen
seiner äußern Stellung, daß ihm nur während des Wintersemesters seine An¬
wesenheit in Berlin und eine Vorlesung an der Universität zur Pflicht gemacht
war: den Sommer sollte er für sich haben. Ein Jahr vorher hatte er darauf
gerechnet, auch den Sommer freiwillig mitunter in Berlin zuzubringen; er
äußerte, wenn es auch nicht Regel werden sollte, so würde es ihn doch freuen,
wenn er nicht eher als bis zu dem solennen Abschnitte des akademischen Jahres,
den großen Herbstferien, nach Neuses zu kommen veranlaßt sei. Nun aber stand
es so, daß nicht blos seine Stimmung, sondern noch vielmehr ihr Hauptfactor,
seine Gesundheit, seine möglichst schleunige Entfernung aus Berlin zur Pflicht
machte. Der Sommer heilte sehr bald die Winterschäden aus, aber im Spät¬
herbst galt es wieder und diesmal mit weniger frischem Muthe als ein Jahr
vorher, dem Norden zuzusteuern. Der darauffolgende Winter war im Wesent¬
lichen die Wiederholung des ersten, nur daß sich begreiflicherweise alle die
Uebelstände Berlins noch greller und drückender fühlbar machten, und daß für
Rückert die ersten Strahlen der Frühlingssonne noch mehr wie im vorigen Jahre
eine wirkliche Erlösung aus unerträglichen Zuständen brachten. Nunmehr stand
sein Entschluß ganz und aus einmal fest, unbeirrt durch alle Einwendungen
wohlmeinender Freunde, welche ihn nach ihrer Art von dieser und jener Seite
her vorsichtig und ängstlich abwogen. Er verlegte den ganzen Schwerpunkt
seines Lebens nach Neuses, das von da an zuerst seine eigentliche Heimath
wurde und bis zu seinem letzen Athemzuge geblieben ist. Dort sollte seine
Familie dauernd wohnen, nicht mehr gestört durch den doppelten jährlichen
Umzug von und nach Berlin, damals noch ein schwereres Stück Arbeit als wir
es uns jetzt im Zeitalter des vollendeten Eisenbahnnetzes vorzustellen Pflegen,
auch wenn wir selbst noch unter jenen unfertigen Zuständen gelitten haben.
Er selbst wollte Berlin fortan nur als sein Winterabsteigcquartier betrachten.
Was ein solcher Entschluß für ihn bedeuten wollte, der wie kein anderer im
tiefsten Gemüthe an den Seinigen hing, bedarf keiner Auseinandersetzung,
aber es läßt sich begreifen, daß es nur der unbeugsamen Ueberzeugung, die ihm
seine innere Stimme einflößte, gelingen konnte, alle die Bedenken des Verstandes
und des Herzens zu überwinden, die in einer solcher Situation auftauchten.


deren freundlichem und anregendem Geleite er dort eingezogen war. Daß er
aber mit den Ultras unter seinen Freunden in beiden Lagern, z. B. mit Stahl
hüben und Bettina drüben, den Verkehr möglichst beschränkte und endlich ganz
abbrach, verstand sich für ihn von selbst, obgleich es ihm menschlich leid that.

So kam das ersehnte Ende des ersten Winters heran. Noch durfte zwar
von einem eigentlichen Scheitern aller Hoffnungen nicht die Rede sein, aber es
stand doch so. daß Rückert die ersten trockenen und sonnigen Märztage mit noch
viel innigerer Freude als sonst begrüßte, weil sie ihm es ermöglichten, aus der
großen Stadt nach Neuses zu eilen. Es gehörte zu den liberalen Bedingungen
seiner äußern Stellung, daß ihm nur während des Wintersemesters seine An¬
wesenheit in Berlin und eine Vorlesung an der Universität zur Pflicht gemacht
war: den Sommer sollte er für sich haben. Ein Jahr vorher hatte er darauf
gerechnet, auch den Sommer freiwillig mitunter in Berlin zuzubringen; er
äußerte, wenn es auch nicht Regel werden sollte, so würde es ihn doch freuen,
wenn er nicht eher als bis zu dem solennen Abschnitte des akademischen Jahres,
den großen Herbstferien, nach Neuses zu kommen veranlaßt sei. Nun aber stand
es so, daß nicht blos seine Stimmung, sondern noch vielmehr ihr Hauptfactor,
seine Gesundheit, seine möglichst schleunige Entfernung aus Berlin zur Pflicht
machte. Der Sommer heilte sehr bald die Winterschäden aus, aber im Spät¬
herbst galt es wieder und diesmal mit weniger frischem Muthe als ein Jahr
vorher, dem Norden zuzusteuern. Der darauffolgende Winter war im Wesent¬
lichen die Wiederholung des ersten, nur daß sich begreiflicherweise alle die
Uebelstände Berlins noch greller und drückender fühlbar machten, und daß für
Rückert die ersten Strahlen der Frühlingssonne noch mehr wie im vorigen Jahre
eine wirkliche Erlösung aus unerträglichen Zuständen brachten. Nunmehr stand
sein Entschluß ganz und aus einmal fest, unbeirrt durch alle Einwendungen
wohlmeinender Freunde, welche ihn nach ihrer Art von dieser und jener Seite
her vorsichtig und ängstlich abwogen. Er verlegte den ganzen Schwerpunkt
seines Lebens nach Neuses, das von da an zuerst seine eigentliche Heimath
wurde und bis zu seinem letzen Athemzuge geblieben ist. Dort sollte seine
Familie dauernd wohnen, nicht mehr gestört durch den doppelten jährlichen
Umzug von und nach Berlin, damals noch ein schwereres Stück Arbeit als wir
es uns jetzt im Zeitalter des vollendeten Eisenbahnnetzes vorzustellen Pflegen,
auch wenn wir selbst noch unter jenen unfertigen Zuständen gelitten haben.
Er selbst wollte Berlin fortan nur als sein Winterabsteigcquartier betrachten.
Was ein solcher Entschluß für ihn bedeuten wollte, der wie kein anderer im
tiefsten Gemüthe an den Seinigen hing, bedarf keiner Auseinandersetzung,
aber es läßt sich begreifen, daß es nur der unbeugsamen Ueberzeugung, die ihm
seine innere Stimme einflößte, gelingen konnte, alle die Bedenken des Verstandes
und des Herzens zu überwinden, die in einer solcher Situation auftauchten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/26>, abgerufen am 15.05.2024.