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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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denen die falschen Montesquieuschen Vorstellungen von dem Wesen der englischen
Verfassung noch maßgebend waren -- ist die Lehre von der absoluten Noth¬
wendigkeit des Zweikammersystems gewesen. Die Vorzüge desselben zu ver¬
kennen sind wir weit entfernt -- von diesen Vorzügen kann aber nur die Rede
sein, wenn jede der beiden Kammern wirklich vorhandene Interessen, lebendige
Factoren des Staatslebens reprcisentirt. An dem gehörigen Material zum Auf¬
bau einer ersten Kammer, an Vertretern eines großen selbständigen Grund¬
besitzes und einer vom Hofdienst unabhängigen Aristokratie hat es wie in der
Mehrzahl der deutschen Staaten, so auch in Sachsen vollkommen gefehlt, weil
es in dieser Beziehung nichts zu vertreten gab. In der ersten sächsischen Kam¬
mer sitzt eine Anzahl Leute beisammen, die durch kein besonderes Interesse mit
einander verbunden sind, die, wenn die Session geschlossen ist, Nichts mehr mit
einander gemein haben, die sich durch nichts von den übrigen Staatsbürgern
unterscheiden und keine selbständige Macht im Staatsleben repräsentiren. Im
Wesen und Begriff der Volksvertretung liegt es aber, daß dieselbe ein Abbild
der im Staatsleben wirklich thätigen Elemente bilde. Nach der Macht, welche
durch die erste sächsische Kammer reprcisentirt wird, sehen wir uns im wirklichen
Leben aber vergeblich um. Welche Rolle spielt das Hochstift Meißen, welche das
Collegiatstift Würzen für die Entwickelung Sachsens? Welche politischen Inte¬
ressen sind durch den dresdner Oberhofprediger, den leipziger Superintendenten
oder den bautzener Stistsdetan vertreten? Welchen Sinn hat es, daß sechs
städtische Bürgermeister der sächsischen Pairie zugezählt werden, während das
Wohl ihrer bereits in der zweiten Kammer vertretenen Städte mit dem aller
übrigen Theile des Landes vollständig zusammenfällt? Worauf endlich stützt sich
die Ausnahmestellung der 22 Rittergutsbesitzer, welche dieser Körperschaft an¬
gehören? Ein Land, in welchem es keine Aristokratie gibt, in welchem der
Grund und Boden in tausende mittelgroßer Güter zerschlagen ist, der Adel fast
nur noch aus einer Summe meist vermögensloser Staatsbürger besteht, die
bei Vertheilung der Offiziers- und Beamtenstellen bevorzugt zu werden ge¬
wohnt sind, muß der Natur der Sache nach auf ein Oberhaus verzichten.
Die eigentlich herrschende Classe ist die der Inhaber des beweglichen Vermögens,
und daß diese in die Volkskammer und nicht in die Pairie gehört, steht in
jedem politischen A-B-C-Buch. Die erste Kammer ist thatsächlich nie mehr
gewesen, als eine Vertreterin des Partikularismus und der gouvernementalen
Bequemlichkeit -- was das Land an unabhängigen, selbständige Interessen re-
präsentirenden Kräften besaß, hat, wenn es überhaupt sich am öffentlichen
Leben betheiligte, in der zweiten Kammer Platz genommen. Daß in Zukunft
nur die Hälfte der vom Könige lebenslänglich ernannten Pairs aus Ritterguts¬
besitzern bestehen soll, ändert an der Sache nichts. Vertreter "großer Inter¬
essen", wie die Sachs. Zeitung es nannte, sind in Sachsen nur unter den


denen die falschen Montesquieuschen Vorstellungen von dem Wesen der englischen
Verfassung noch maßgebend waren — ist die Lehre von der absoluten Noth¬
wendigkeit des Zweikammersystems gewesen. Die Vorzüge desselben zu ver¬
kennen sind wir weit entfernt — von diesen Vorzügen kann aber nur die Rede
sein, wenn jede der beiden Kammern wirklich vorhandene Interessen, lebendige
Factoren des Staatslebens reprcisentirt. An dem gehörigen Material zum Auf¬
bau einer ersten Kammer, an Vertretern eines großen selbständigen Grund¬
besitzes und einer vom Hofdienst unabhängigen Aristokratie hat es wie in der
Mehrzahl der deutschen Staaten, so auch in Sachsen vollkommen gefehlt, weil
es in dieser Beziehung nichts zu vertreten gab. In der ersten sächsischen Kam¬
mer sitzt eine Anzahl Leute beisammen, die durch kein besonderes Interesse mit
einander verbunden sind, die, wenn die Session geschlossen ist, Nichts mehr mit
einander gemein haben, die sich durch nichts von den übrigen Staatsbürgern
unterscheiden und keine selbständige Macht im Staatsleben repräsentiren. Im
Wesen und Begriff der Volksvertretung liegt es aber, daß dieselbe ein Abbild
der im Staatsleben wirklich thätigen Elemente bilde. Nach der Macht, welche
durch die erste sächsische Kammer reprcisentirt wird, sehen wir uns im wirklichen
Leben aber vergeblich um. Welche Rolle spielt das Hochstift Meißen, welche das
Collegiatstift Würzen für die Entwickelung Sachsens? Welche politischen Inte¬
ressen sind durch den dresdner Oberhofprediger, den leipziger Superintendenten
oder den bautzener Stistsdetan vertreten? Welchen Sinn hat es, daß sechs
städtische Bürgermeister der sächsischen Pairie zugezählt werden, während das
Wohl ihrer bereits in der zweiten Kammer vertretenen Städte mit dem aller
übrigen Theile des Landes vollständig zusammenfällt? Worauf endlich stützt sich
die Ausnahmestellung der 22 Rittergutsbesitzer, welche dieser Körperschaft an¬
gehören? Ein Land, in welchem es keine Aristokratie gibt, in welchem der
Grund und Boden in tausende mittelgroßer Güter zerschlagen ist, der Adel fast
nur noch aus einer Summe meist vermögensloser Staatsbürger besteht, die
bei Vertheilung der Offiziers- und Beamtenstellen bevorzugt zu werden ge¬
wohnt sind, muß der Natur der Sache nach auf ein Oberhaus verzichten.
Die eigentlich herrschende Classe ist die der Inhaber des beweglichen Vermögens,
und daß diese in die Volkskammer und nicht in die Pairie gehört, steht in
jedem politischen A-B-C-Buch. Die erste Kammer ist thatsächlich nie mehr
gewesen, als eine Vertreterin des Partikularismus und der gouvernementalen
Bequemlichkeit — was das Land an unabhängigen, selbständige Interessen re-
präsentirenden Kräften besaß, hat, wenn es überhaupt sich am öffentlichen
Leben betheiligte, in der zweiten Kammer Platz genommen. Daß in Zukunft
nur die Hälfte der vom Könige lebenslänglich ernannten Pairs aus Ritterguts¬
besitzern bestehen soll, ändert an der Sache nichts. Vertreter „großer Inter¬
essen", wie die Sachs. Zeitung es nannte, sind in Sachsen nur unter den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/486>, abgerufen am 16.05.2024.