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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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In den letzten Zeiten verfügen die Regierungen über andere Mittel, Kennt¬
niß zu erlangen von der allgemeinen Sachlage und von dem Thatbestand im
Einzelnen. Verkehrsanstalten, die Raum und Zeit überwinden, allerlei Mani¬
festationen der öffentlichen Meinung, die Kundgebungen der Presse, die
Oeffentlichkeit der Kammerverhandlungen, die Blau-, Roth-, Gelbbücher, die
Interpellationen und Adressen, die Resolutionen der Volksversammlungen,
vor Allem aber das größere Vertrauen zwischen Regierenden und Regierten
-- alles dieses erspart den Regierungen eine ganze Reihe von Kunstgriffen,
um sich über die öffentlichen Zustände zu unterrichten.

Anders im achtzehnten Jahrhundert.

Der Secretär der Kaiserin Katharina II., Chragomitzki, welcher mehrere
Jahre hindurch in täglichem Verkehr mit ihr stand, hal höchst anziehende
Tagebuchnotizen über das von ihm Beobachtete hinterlassen. Fast dreihundert
Seiten stark sind diese Aufzeichnungen vor einigen Jahren von der Moskaner
Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer Rußlands herausgegeben worden.
In diesem Tagebuche findet sich unzählige Male, ziemlich regelmäßig wöchent¬
lich ein- oder zweimal wiederkehrend, der Ausdruck "Perlustration", und zwar
beispielsweise in folgendem Zusammenhange: "In der Perlustration schreibt
der und der", oder "Aus der Perlustration der Briefe des so und so geht
hervor" u. s. w. Katharina las die "Perlustration", Chragomitzki desgleichen.
Ueber den Inhalt derselben unterhielt sich die Kaiserin dann oft mit ihrem
Secretär. Vornehmlich sind es die Briefe ausländischer Diplomaten an ihre
Regierungen oder die Depeschen der Regierungen an ihre Gesandten in
Se. Petersburg, welche "perlustrirt" werden. Man darf annehmen, daß
regelmäßig vor Abgang und nach Eintreffen der Posten der Kaiserin Aus¬
züge aus solchen Briefschaften zugestellt wurden, welche des Erbrechens und
Lesens werth schienen. Besonders häusig sind Bemerkungen über den Inhalt
der Depeschen, welche aus dem Auslande an die Gesandten Frankreichs,
Dänemarks, Preußens, Englands u. s. w. gerichtet sind und über die Stim¬
mungen und Absichten dieser Mächte in Bezug auf Nußland wichtige Auf¬
schlüsse enthalten. Besonders häufig sind solche Notizen in den Jahren
1788 und 1789, zu der Zeit als mit Schweden und der Türkei Krieg ge-
führt wurde, wie denn überhaupt die Aufzeichnungen Chragomitzki's während
dieser Jahre besonders ausführlich sind. Daß offenbar diePosttage mit den
Bemerkungen über die Perlustration zusammenhängen, geht aus der regel¬
mäßigen Wiederkehr der letzteren hervor, so etwa, daß am 13., 20., 23., 27.
Juli, 13., 20., 24., 27., 31. August, 3., 7., 14., 17., 28. September der Per¬
lustration erwähnt wird. Es kommen da Briefe vor u. A. vom englischen
Gesandten Fitz-Herbert an Lord EUis, vom französischen Gesandten Se'gur
an Lafayette, vom dänischen Gesandten Se. Saphorin an den Grafen Bern-


In den letzten Zeiten verfügen die Regierungen über andere Mittel, Kennt¬
niß zu erlangen von der allgemeinen Sachlage und von dem Thatbestand im
Einzelnen. Verkehrsanstalten, die Raum und Zeit überwinden, allerlei Mani¬
festationen der öffentlichen Meinung, die Kundgebungen der Presse, die
Oeffentlichkeit der Kammerverhandlungen, die Blau-, Roth-, Gelbbücher, die
Interpellationen und Adressen, die Resolutionen der Volksversammlungen,
vor Allem aber das größere Vertrauen zwischen Regierenden und Regierten
— alles dieses erspart den Regierungen eine ganze Reihe von Kunstgriffen,
um sich über die öffentlichen Zustände zu unterrichten.

Anders im achtzehnten Jahrhundert.

Der Secretär der Kaiserin Katharina II., Chragomitzki, welcher mehrere
Jahre hindurch in täglichem Verkehr mit ihr stand, hal höchst anziehende
Tagebuchnotizen über das von ihm Beobachtete hinterlassen. Fast dreihundert
Seiten stark sind diese Aufzeichnungen vor einigen Jahren von der Moskaner
Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer Rußlands herausgegeben worden.
In diesem Tagebuche findet sich unzählige Male, ziemlich regelmäßig wöchent¬
lich ein- oder zweimal wiederkehrend, der Ausdruck „Perlustration", und zwar
beispielsweise in folgendem Zusammenhange: „In der Perlustration schreibt
der und der", oder „Aus der Perlustration der Briefe des so und so geht
hervor" u. s. w. Katharina las die „Perlustration", Chragomitzki desgleichen.
Ueber den Inhalt derselben unterhielt sich die Kaiserin dann oft mit ihrem
Secretär. Vornehmlich sind es die Briefe ausländischer Diplomaten an ihre
Regierungen oder die Depeschen der Regierungen an ihre Gesandten in
Se. Petersburg, welche „perlustrirt" werden. Man darf annehmen, daß
regelmäßig vor Abgang und nach Eintreffen der Posten der Kaiserin Aus¬
züge aus solchen Briefschaften zugestellt wurden, welche des Erbrechens und
Lesens werth schienen. Besonders häusig sind Bemerkungen über den Inhalt
der Depeschen, welche aus dem Auslande an die Gesandten Frankreichs,
Dänemarks, Preußens, Englands u. s. w. gerichtet sind und über die Stim¬
mungen und Absichten dieser Mächte in Bezug auf Nußland wichtige Auf¬
schlüsse enthalten. Besonders häufig sind solche Notizen in den Jahren
1788 und 1789, zu der Zeit als mit Schweden und der Türkei Krieg ge-
führt wurde, wie denn überhaupt die Aufzeichnungen Chragomitzki's während
dieser Jahre besonders ausführlich sind. Daß offenbar diePosttage mit den
Bemerkungen über die Perlustration zusammenhängen, geht aus der regel¬
mäßigen Wiederkehr der letzteren hervor, so etwa, daß am 13., 20., 23., 27.
Juli, 13., 20., 24., 27., 31. August, 3., 7., 14., 17., 28. September der Per¬
lustration erwähnt wird. Es kommen da Briefe vor u. A. vom englischen
Gesandten Fitz-Herbert an Lord EUis, vom französischen Gesandten Se'gur
an Lafayette, vom dänischen Gesandten Se. Saphorin an den Grafen Bern-


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[0022] In den letzten Zeiten verfügen die Regierungen über andere Mittel, Kennt¬ niß zu erlangen von der allgemeinen Sachlage und von dem Thatbestand im Einzelnen. Verkehrsanstalten, die Raum und Zeit überwinden, allerlei Mani¬ festationen der öffentlichen Meinung, die Kundgebungen der Presse, die Oeffentlichkeit der Kammerverhandlungen, die Blau-, Roth-, Gelbbücher, die Interpellationen und Adressen, die Resolutionen der Volksversammlungen, vor Allem aber das größere Vertrauen zwischen Regierenden und Regierten — alles dieses erspart den Regierungen eine ganze Reihe von Kunstgriffen, um sich über die öffentlichen Zustände zu unterrichten. Anders im achtzehnten Jahrhundert. Der Secretär der Kaiserin Katharina II., Chragomitzki, welcher mehrere Jahre hindurch in täglichem Verkehr mit ihr stand, hal höchst anziehende Tagebuchnotizen über das von ihm Beobachtete hinterlassen. Fast dreihundert Seiten stark sind diese Aufzeichnungen vor einigen Jahren von der Moskaner Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer Rußlands herausgegeben worden. In diesem Tagebuche findet sich unzählige Male, ziemlich regelmäßig wöchent¬ lich ein- oder zweimal wiederkehrend, der Ausdruck „Perlustration", und zwar beispielsweise in folgendem Zusammenhange: „In der Perlustration schreibt der und der", oder „Aus der Perlustration der Briefe des so und so geht hervor" u. s. w. Katharina las die „Perlustration", Chragomitzki desgleichen. Ueber den Inhalt derselben unterhielt sich die Kaiserin dann oft mit ihrem Secretär. Vornehmlich sind es die Briefe ausländischer Diplomaten an ihre Regierungen oder die Depeschen der Regierungen an ihre Gesandten in Se. Petersburg, welche „perlustrirt" werden. Man darf annehmen, daß regelmäßig vor Abgang und nach Eintreffen der Posten der Kaiserin Aus¬ züge aus solchen Briefschaften zugestellt wurden, welche des Erbrechens und Lesens werth schienen. Besonders häusig sind Bemerkungen über den Inhalt der Depeschen, welche aus dem Auslande an die Gesandten Frankreichs, Dänemarks, Preußens, Englands u. s. w. gerichtet sind und über die Stim¬ mungen und Absichten dieser Mächte in Bezug auf Nußland wichtige Auf¬ schlüsse enthalten. Besonders häufig sind solche Notizen in den Jahren 1788 und 1789, zu der Zeit als mit Schweden und der Türkei Krieg ge- führt wurde, wie denn überhaupt die Aufzeichnungen Chragomitzki's während dieser Jahre besonders ausführlich sind. Daß offenbar diePosttage mit den Bemerkungen über die Perlustration zusammenhängen, geht aus der regel¬ mäßigen Wiederkehr der letzteren hervor, so etwa, daß am 13., 20., 23., 27. Juli, 13., 20., 24., 27., 31. August, 3., 7., 14., 17., 28. September der Per¬ lustration erwähnt wird. Es kommen da Briefe vor u. A. vom englischen Gesandten Fitz-Herbert an Lord EUis, vom französischen Gesandten Se'gur an Lafayette, vom dänischen Gesandten Se. Saphorin an den Grafen Bern-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/22>, abgerufen am 16.06.2024.