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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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nicht daß der Vortrag ihm gefalle, er will Belehrung. Der Lehrer kann zu
ihm kommen, ohne seine Vorlesung mühsam nach den Regeln der Schulkunst
ausgearbeitet zu haben; es genügt, daß er seinem Schüler sein Wissen bringe, und
daß er ihm dieses Wissen durch engeren und fruchtbarerer" Verkehr mitzutheilen
suche. Von dem Tage an, wo unsere Professoren wirkliche Jünger und Schüler
haben werden, wie auf den deutschen Universitäten, werden sie, ohne den kost¬
baren Eigenschaften unseres Nationalgeistes zu entsagen, mehr Zeit auf die
Arbeit der literarischen und historischen Gelehrsamkeit verwenden, welche jen¬
seit des Rheins in so hohen Ehren steht, während sie heutzutage bei uns
allzusehr vernachlässigt wird."

Mit so gewichtigen Worten sprach sich der Minister aus; sogar auf
das Beispiel des Auslandes hatte er sich berufen, um die Mängel der eigenen
Einrichtungen aufzudecken und zu beleuchten! Der eindringliche Mahnruf
war nicht vergeblich erschallt.

Es wurde beschlossen, eine Anstalt zu gründen, welche den studirenden
jungen Mann mit der wissenschaftlichen Methode vertraut machen und zu
eigener Thätigkeit anleiten, bei ihm den Grund zu einer selbständigen Ent¬
wickelung legen sollte. Durch kaiserliches Decret vom 31. Juli 1868 war die
Levis xratique ach lautes 6t,nass ins Leben gerufen.

Diese Schule, die bereits in das zweite Jahr ihrer Wirksamkeit ge¬
treten ist, umfaßt vier Sectionen: Mathematik, Physik und Chemie, Natur¬
geschichte und Physiologie, Historische und philologische Disciplinen.

Letztere Section, die uns hier allein beschäftigen soll, zerfällt wieder in
mehrere Unterabtheilungen: semitische, egyptische, romanische Sprachen, Sans¬
krit, vergleichende Philologie, lateinische und griechische Sprache und Alter-
thümer, Geschichte. An der Spitze dieser Abtheilungen stehen die angesehensten
Vertreter französischer Wissenschaft, fast sämmtlich Professoren am Volksth as
I'iÄllee, Le'on Nenier, A. Maury, Waddington, de Rouge, Gaston Boissier
M. Bre'al, Dufre'mery. Die wenigsten der Direktoren halten jedoch selbst
Vorlesungen; der praktische Unterricht ist meist jüngeren Kräften anver¬
traut, unter welchen wir Namen, wie denen von Ch. Morel und G. Paris
begegnen, den verdienten Gründern der Revus (ürltiyus, die auch in Deutsch¬
land einen guten Klang haben. Viele von den Lehrern haben auf deutschen
Hochschulen studirt und zu den Schülern von Bopp, Diez, Jahr, Ritschl,
Waitz, Welcker gehört: sie sind mit unseren Institutionen wohl bekannt und
haben von unseren Universitäten das frische, rüstig vorwärts strebende wissen¬
schaftliche Leben in ihre Heimath zurückgebracht. Eine schöne Aufgabe liegt
dieser jungen Generation ob, sie baut in ununterbrochener Arbeit einen Bogen
der Brücke, auf der die beiden großen Nachbarvölker sich friedlich begegnen


Grenzboten 1.1870. 4

nicht daß der Vortrag ihm gefalle, er will Belehrung. Der Lehrer kann zu
ihm kommen, ohne seine Vorlesung mühsam nach den Regeln der Schulkunst
ausgearbeitet zu haben; es genügt, daß er seinem Schüler sein Wissen bringe, und
daß er ihm dieses Wissen durch engeren und fruchtbarerer» Verkehr mitzutheilen
suche. Von dem Tage an, wo unsere Professoren wirkliche Jünger und Schüler
haben werden, wie auf den deutschen Universitäten, werden sie, ohne den kost¬
baren Eigenschaften unseres Nationalgeistes zu entsagen, mehr Zeit auf die
Arbeit der literarischen und historischen Gelehrsamkeit verwenden, welche jen¬
seit des Rheins in so hohen Ehren steht, während sie heutzutage bei uns
allzusehr vernachlässigt wird."

Mit so gewichtigen Worten sprach sich der Minister aus; sogar auf
das Beispiel des Auslandes hatte er sich berufen, um die Mängel der eigenen
Einrichtungen aufzudecken und zu beleuchten! Der eindringliche Mahnruf
war nicht vergeblich erschallt.

Es wurde beschlossen, eine Anstalt zu gründen, welche den studirenden
jungen Mann mit der wissenschaftlichen Methode vertraut machen und zu
eigener Thätigkeit anleiten, bei ihm den Grund zu einer selbständigen Ent¬
wickelung legen sollte. Durch kaiserliches Decret vom 31. Juli 1868 war die
Levis xratique ach lautes 6t,nass ins Leben gerufen.

Diese Schule, die bereits in das zweite Jahr ihrer Wirksamkeit ge¬
treten ist, umfaßt vier Sectionen: Mathematik, Physik und Chemie, Natur¬
geschichte und Physiologie, Historische und philologische Disciplinen.

Letztere Section, die uns hier allein beschäftigen soll, zerfällt wieder in
mehrere Unterabtheilungen: semitische, egyptische, romanische Sprachen, Sans¬
krit, vergleichende Philologie, lateinische und griechische Sprache und Alter-
thümer, Geschichte. An der Spitze dieser Abtheilungen stehen die angesehensten
Vertreter französischer Wissenschaft, fast sämmtlich Professoren am Volksth as
I'iÄllee, Le'on Nenier, A. Maury, Waddington, de Rouge, Gaston Boissier
M. Bre'al, Dufre'mery. Die wenigsten der Direktoren halten jedoch selbst
Vorlesungen; der praktische Unterricht ist meist jüngeren Kräften anver¬
traut, unter welchen wir Namen, wie denen von Ch. Morel und G. Paris
begegnen, den verdienten Gründern der Revus (ürltiyus, die auch in Deutsch¬
land einen guten Klang haben. Viele von den Lehrern haben auf deutschen
Hochschulen studirt und zu den Schülern von Bopp, Diez, Jahr, Ritschl,
Waitz, Welcker gehört: sie sind mit unseren Institutionen wohl bekannt und
haben von unseren Universitäten das frische, rüstig vorwärts strebende wissen¬
schaftliche Leben in ihre Heimath zurückgebracht. Eine schöne Aufgabe liegt
dieser jungen Generation ob, sie baut in ununterbrochener Arbeit einen Bogen
der Brücke, auf der die beiden großen Nachbarvölker sich friedlich begegnen


Grenzboten 1.1870. 4
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[0031] nicht daß der Vortrag ihm gefalle, er will Belehrung. Der Lehrer kann zu ihm kommen, ohne seine Vorlesung mühsam nach den Regeln der Schulkunst ausgearbeitet zu haben; es genügt, daß er seinem Schüler sein Wissen bringe, und daß er ihm dieses Wissen durch engeren und fruchtbarerer» Verkehr mitzutheilen suche. Von dem Tage an, wo unsere Professoren wirkliche Jünger und Schüler haben werden, wie auf den deutschen Universitäten, werden sie, ohne den kost¬ baren Eigenschaften unseres Nationalgeistes zu entsagen, mehr Zeit auf die Arbeit der literarischen und historischen Gelehrsamkeit verwenden, welche jen¬ seit des Rheins in so hohen Ehren steht, während sie heutzutage bei uns allzusehr vernachlässigt wird." Mit so gewichtigen Worten sprach sich der Minister aus; sogar auf das Beispiel des Auslandes hatte er sich berufen, um die Mängel der eigenen Einrichtungen aufzudecken und zu beleuchten! Der eindringliche Mahnruf war nicht vergeblich erschallt. Es wurde beschlossen, eine Anstalt zu gründen, welche den studirenden jungen Mann mit der wissenschaftlichen Methode vertraut machen und zu eigener Thätigkeit anleiten, bei ihm den Grund zu einer selbständigen Ent¬ wickelung legen sollte. Durch kaiserliches Decret vom 31. Juli 1868 war die Levis xratique ach lautes 6t,nass ins Leben gerufen. Diese Schule, die bereits in das zweite Jahr ihrer Wirksamkeit ge¬ treten ist, umfaßt vier Sectionen: Mathematik, Physik und Chemie, Natur¬ geschichte und Physiologie, Historische und philologische Disciplinen. Letztere Section, die uns hier allein beschäftigen soll, zerfällt wieder in mehrere Unterabtheilungen: semitische, egyptische, romanische Sprachen, Sans¬ krit, vergleichende Philologie, lateinische und griechische Sprache und Alter- thümer, Geschichte. An der Spitze dieser Abtheilungen stehen die angesehensten Vertreter französischer Wissenschaft, fast sämmtlich Professoren am Volksth as I'iÄllee, Le'on Nenier, A. Maury, Waddington, de Rouge, Gaston Boissier M. Bre'al, Dufre'mery. Die wenigsten der Direktoren halten jedoch selbst Vorlesungen; der praktische Unterricht ist meist jüngeren Kräften anver¬ traut, unter welchen wir Namen, wie denen von Ch. Morel und G. Paris begegnen, den verdienten Gründern der Revus (ürltiyus, die auch in Deutsch¬ land einen guten Klang haben. Viele von den Lehrern haben auf deutschen Hochschulen studirt und zu den Schülern von Bopp, Diez, Jahr, Ritschl, Waitz, Welcker gehört: sie sind mit unseren Institutionen wohl bekannt und haben von unseren Universitäten das frische, rüstig vorwärts strebende wissen¬ schaftliche Leben in ihre Heimath zurückgebracht. Eine schöne Aufgabe liegt dieser jungen Generation ob, sie baut in ununterbrochener Arbeit einen Bogen der Brücke, auf der die beiden großen Nachbarvölker sich friedlich begegnen Grenzboten 1.1870. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/31>, abgerufen am 16.06.2024.