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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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ihrer Stoffe gelassen, keine Behörde hat mit einem beengenden Programme
die einzelnen beschränkt. Dies ist ein großer Fortschritt, eine hier zu Lande
für alle höheren wie niederen Lehranstalten (außer dem OoIIöZe Ah?ranos)
bisher unbekannte Freiheit, während wir nach unseren Universitätsbegriffen
Mühe haben, eine derartige Bevormundung der Professoren durch irgend
einen Vorgesetzten auch nur zu denken. Es ist unglaublich, zu welchen Ver¬
kehrtheiten und Lächerlichkeiten diese französische Sucht, Alles in feste Regeln
zu bannen, führen kann; ich nehme gleich in Paris ein Beispiel. Ein aka¬
demischer Lehrer, der auf dem Gebiete der modernen, speciell nordischen Ge¬
schichte, Bedeutendes geleistet, muß über Roms älteste Zeiten lesen! Ein
anderer dagegen, der sich vielfach und verdienstlich mit den ökonomischen
Verhältnissen des Alterthums beschäftigt, wird mit der Darstellung von Lud¬
wig's XIV. Zeitalter beauftragt. In der einzigen Pariser Facultät könnte
man noch vier Fälle solcher Absurditäten aufzählen. In der Leole ass Kante"
6kutes aber kann jeder der Professoren den Stoff auswählen, den er zum
Gegenstande der gemeinschaftlichen Besprechungen machen will; natürlich wird
er dasjenige Gebiet bevorzugen, in welchem er besonders competent ist; so
kann er jedesmal die neu gewonnenen Ergebnisse seiner eigenen Forschungen
mittheilen, auf noch Unentschiedenes aufmerksam machen, kurz in die Werk¬
statt der Wissenschaft einführen. Der Lernende hat selbstverständlich mehr
Vertrauen zu seinem Lehrer, wenn er weiß, daß dieser über Dinge spricht, in
denen er nicht nur zu Hause, sondern auch Herr und Meister ist.

Der kurzen Dauer ihres Bestehens ungeachtet kann die neue Schule
schon recht erfreuliche Resultate aufweisen, die sie eben als eine nothwendige
zeitgemäße Schöpfung erscheinen lassen, als eine für den Augenblick befrie¬
digende Abhilfe für die dringenden Bedürfnisse der Wissenschaft sowohl
als auch für die lernbegierige junge Generation. Eine in zwanglosen Heften
erscheinende Zeitschrift, die Libliotliöhus <is l'Levis Äsg tantes stuäss ver¬
öffentlicht theils die in den gemeinsamen Besprechungen vollendeten Arbeiten,
theils die dem Fleiße einzelner Mitglieder verdankten Aufsätze. Eine bedeu-
tende Stelle nehmen dabei die Uebersetzungen aus dem Englischen und noch
mehr aus dem Deutschen ein; denn der Franzose, selbst der wissenschaftlich
gebildete, entschließt sich noch nicht gern zur Erlernung fremder Sprachen,
namentlich nicht der seiner östlichen Nachbarn! Seit 1866 ist zwar auch dies
besser geworden, aber zu thun bleibt noch viel, sehr viel! Von der Zeitschrift
sind bereits zwei Hefte*) erschienen; mindestens ebenso viele befinden sich unter
der Presse; eines der nächsten soll ein noch unedirtes altfranzösisches Gedicht,
-- das Leben des h. Alexis -- nebst Einleitung und Commentar bringen.



") Fronck'sche Buchhandlung.
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ihrer Stoffe gelassen, keine Behörde hat mit einem beengenden Programme
die einzelnen beschränkt. Dies ist ein großer Fortschritt, eine hier zu Lande
für alle höheren wie niederen Lehranstalten (außer dem OoIIöZe Ah?ranos)
bisher unbekannte Freiheit, während wir nach unseren Universitätsbegriffen
Mühe haben, eine derartige Bevormundung der Professoren durch irgend
einen Vorgesetzten auch nur zu denken. Es ist unglaublich, zu welchen Ver¬
kehrtheiten und Lächerlichkeiten diese französische Sucht, Alles in feste Regeln
zu bannen, führen kann; ich nehme gleich in Paris ein Beispiel. Ein aka¬
demischer Lehrer, der auf dem Gebiete der modernen, speciell nordischen Ge¬
schichte, Bedeutendes geleistet, muß über Roms älteste Zeiten lesen! Ein
anderer dagegen, der sich vielfach und verdienstlich mit den ökonomischen
Verhältnissen des Alterthums beschäftigt, wird mit der Darstellung von Lud¬
wig's XIV. Zeitalter beauftragt. In der einzigen Pariser Facultät könnte
man noch vier Fälle solcher Absurditäten aufzählen. In der Leole ass Kante»
6kutes aber kann jeder der Professoren den Stoff auswählen, den er zum
Gegenstande der gemeinschaftlichen Besprechungen machen will; natürlich wird
er dasjenige Gebiet bevorzugen, in welchem er besonders competent ist; so
kann er jedesmal die neu gewonnenen Ergebnisse seiner eigenen Forschungen
mittheilen, auf noch Unentschiedenes aufmerksam machen, kurz in die Werk¬
statt der Wissenschaft einführen. Der Lernende hat selbstverständlich mehr
Vertrauen zu seinem Lehrer, wenn er weiß, daß dieser über Dinge spricht, in
denen er nicht nur zu Hause, sondern auch Herr und Meister ist.

Der kurzen Dauer ihres Bestehens ungeachtet kann die neue Schule
schon recht erfreuliche Resultate aufweisen, die sie eben als eine nothwendige
zeitgemäße Schöpfung erscheinen lassen, als eine für den Augenblick befrie¬
digende Abhilfe für die dringenden Bedürfnisse der Wissenschaft sowohl
als auch für die lernbegierige junge Generation. Eine in zwanglosen Heften
erscheinende Zeitschrift, die Libliotliöhus <is l'Levis Äsg tantes stuäss ver¬
öffentlicht theils die in den gemeinsamen Besprechungen vollendeten Arbeiten,
theils die dem Fleiße einzelner Mitglieder verdankten Aufsätze. Eine bedeu-
tende Stelle nehmen dabei die Uebersetzungen aus dem Englischen und noch
mehr aus dem Deutschen ein; denn der Franzose, selbst der wissenschaftlich
gebildete, entschließt sich noch nicht gern zur Erlernung fremder Sprachen,
namentlich nicht der seiner östlichen Nachbarn! Seit 1866 ist zwar auch dies
besser geworden, aber zu thun bleibt noch viel, sehr viel! Von der Zeitschrift
sind bereits zwei Hefte*) erschienen; mindestens ebenso viele befinden sich unter
der Presse; eines der nächsten soll ein noch unedirtes altfranzösisches Gedicht,
— das Leben des h. Alexis — nebst Einleitung und Commentar bringen.



") Fronck'sche Buchhandlung.
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[0033] ihrer Stoffe gelassen, keine Behörde hat mit einem beengenden Programme die einzelnen beschränkt. Dies ist ein großer Fortschritt, eine hier zu Lande für alle höheren wie niederen Lehranstalten (außer dem OoIIöZe Ah?ranos) bisher unbekannte Freiheit, während wir nach unseren Universitätsbegriffen Mühe haben, eine derartige Bevormundung der Professoren durch irgend einen Vorgesetzten auch nur zu denken. Es ist unglaublich, zu welchen Ver¬ kehrtheiten und Lächerlichkeiten diese französische Sucht, Alles in feste Regeln zu bannen, führen kann; ich nehme gleich in Paris ein Beispiel. Ein aka¬ demischer Lehrer, der auf dem Gebiete der modernen, speciell nordischen Ge¬ schichte, Bedeutendes geleistet, muß über Roms älteste Zeiten lesen! Ein anderer dagegen, der sich vielfach und verdienstlich mit den ökonomischen Verhältnissen des Alterthums beschäftigt, wird mit der Darstellung von Lud¬ wig's XIV. Zeitalter beauftragt. In der einzigen Pariser Facultät könnte man noch vier Fälle solcher Absurditäten aufzählen. In der Leole ass Kante» 6kutes aber kann jeder der Professoren den Stoff auswählen, den er zum Gegenstande der gemeinschaftlichen Besprechungen machen will; natürlich wird er dasjenige Gebiet bevorzugen, in welchem er besonders competent ist; so kann er jedesmal die neu gewonnenen Ergebnisse seiner eigenen Forschungen mittheilen, auf noch Unentschiedenes aufmerksam machen, kurz in die Werk¬ statt der Wissenschaft einführen. Der Lernende hat selbstverständlich mehr Vertrauen zu seinem Lehrer, wenn er weiß, daß dieser über Dinge spricht, in denen er nicht nur zu Hause, sondern auch Herr und Meister ist. Der kurzen Dauer ihres Bestehens ungeachtet kann die neue Schule schon recht erfreuliche Resultate aufweisen, die sie eben als eine nothwendige zeitgemäße Schöpfung erscheinen lassen, als eine für den Augenblick befrie¬ digende Abhilfe für die dringenden Bedürfnisse der Wissenschaft sowohl als auch für die lernbegierige junge Generation. Eine in zwanglosen Heften erscheinende Zeitschrift, die Libliotliöhus <is l'Levis Äsg tantes stuäss ver¬ öffentlicht theils die in den gemeinsamen Besprechungen vollendeten Arbeiten, theils die dem Fleiße einzelner Mitglieder verdankten Aufsätze. Eine bedeu- tende Stelle nehmen dabei die Uebersetzungen aus dem Englischen und noch mehr aus dem Deutschen ein; denn der Franzose, selbst der wissenschaftlich gebildete, entschließt sich noch nicht gern zur Erlernung fremder Sprachen, namentlich nicht der seiner östlichen Nachbarn! Seit 1866 ist zwar auch dies besser geworden, aber zu thun bleibt noch viel, sehr viel! Von der Zeitschrift sind bereits zwei Hefte*) erschienen; mindestens ebenso viele befinden sich unter der Presse; eines der nächsten soll ein noch unedirtes altfranzösisches Gedicht, — das Leben des h. Alexis — nebst Einleitung und Commentar bringen. ") Fronck'sche Buchhandlung. 4»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/33>, abgerufen am 16.06.2024.