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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Moskau und der Wetterau von ihrem Mitgliede Z. gewidmet ist, heißt eS
am Schlüsse (x. 61): "Die Lehre vom Licht gleicht darin der Sonne selbst,
daß uns immer mehr Dunkelheit umgibt, je länger wir uns mit ihr be¬
schäftigen. Der größte Entdecker neuerer Zeit in diesen Gebieten menschlicher
Erkenntniß, Fraunhofer, hinterläßt seinen Nachfolgern noch unermeßliche
Strecken zu erobern; und des vielverherrlichten Sängers Ahnungen vom Ur¬
sprung der Farben*), als Kindern aus der Vermählung des Lichts und der
Finsterniß entsprungen, zeigen in der Ferne auf eine neue Welt voll unent-
schleierter Wunder hin." Auf diese Stelle der Schrift, welche Zschokke an
Goethe gesendet, bezieht sich der Anfang des folgenden Briefes, welchen mir
Herr Pfarrer Emil Zschokke zum Abdruck gütigst überlassen hat. Nur die
Unterschrist ist von Goethe's eigner Hand.

"Ew. Wohlgeb.

Haben mir gefällig eine chromatische Arbeit übersendet, woraus ich er¬
sehe, daß Sie, der bisherigen Lehre zugethan, die Frucht meiner Bemühungen
der Nachwelt überweisen. Ich kann es mir sehr wohl gefallen lassen und
bin auf ein solches Geschick längst vorbereitet. Denn indem ich die Schritte
der Mitlebenden, älteren und jüngeren, seit geraumer Zeit betrachte, bin ich
zu ruhiger Ansicht gelangt, die ich etwa folgendermaßen aussprechen würde.

Die Divergenzen der Forscher sind unvermeidlich, auch überzeugt man
sich bei längerem Leben von der Unmöglichkeit irgend einer Art des Aus¬
gleichend Denn indem alles Urtheil aus den Prämissen entspringt, und,
genau besehen, Jedermann von besonderen Prämissen ausgeht, so wird beim
Abschluß jederzeit eine gewisse Differenz bleiben, die dem einzelnen Wissenden
angehört, und erst recht von der Unendlichkeit des Gegenstandes zeugt, mit
dem wir uns beschäftigen; es sey nun daß wir uns selbst, oder die Welt,
oder was über uns beyden ist, als Ziel, unserer Betrachtungen ins Auge fassen.

Nehmen Sie diese zutraulichen Aeußerungen freundlich auf, erhalten Sie
mir wohlwollende Gesinnungen und danken dem werthen Herrn Sauerländer
für die geneigte Mittheilung Ihrer Werke, die uns diesen Winter, in guter
Gesellschaft vorgelesen, gar manchen vergnügten, lehrreichen Abend verschafften.

Mich bestens empfehlend und alles Gute wünschend

Weimar, d. 28. März 1826.


ergebenst
I. W. v. Goethe.-



°) In einer Anmerkung wird auf Voethe's Farbenlehre hingewiesen.

Moskau und der Wetterau von ihrem Mitgliede Z. gewidmet ist, heißt eS
am Schlüsse (x. 61): „Die Lehre vom Licht gleicht darin der Sonne selbst,
daß uns immer mehr Dunkelheit umgibt, je länger wir uns mit ihr be¬
schäftigen. Der größte Entdecker neuerer Zeit in diesen Gebieten menschlicher
Erkenntniß, Fraunhofer, hinterläßt seinen Nachfolgern noch unermeßliche
Strecken zu erobern; und des vielverherrlichten Sängers Ahnungen vom Ur¬
sprung der Farben*), als Kindern aus der Vermählung des Lichts und der
Finsterniß entsprungen, zeigen in der Ferne auf eine neue Welt voll unent-
schleierter Wunder hin." Auf diese Stelle der Schrift, welche Zschokke an
Goethe gesendet, bezieht sich der Anfang des folgenden Briefes, welchen mir
Herr Pfarrer Emil Zschokke zum Abdruck gütigst überlassen hat. Nur die
Unterschrist ist von Goethe's eigner Hand.

„Ew. Wohlgeb.

Haben mir gefällig eine chromatische Arbeit übersendet, woraus ich er¬
sehe, daß Sie, der bisherigen Lehre zugethan, die Frucht meiner Bemühungen
der Nachwelt überweisen. Ich kann es mir sehr wohl gefallen lassen und
bin auf ein solches Geschick längst vorbereitet. Denn indem ich die Schritte
der Mitlebenden, älteren und jüngeren, seit geraumer Zeit betrachte, bin ich
zu ruhiger Ansicht gelangt, die ich etwa folgendermaßen aussprechen würde.

Die Divergenzen der Forscher sind unvermeidlich, auch überzeugt man
sich bei längerem Leben von der Unmöglichkeit irgend einer Art des Aus¬
gleichend Denn indem alles Urtheil aus den Prämissen entspringt, und,
genau besehen, Jedermann von besonderen Prämissen ausgeht, so wird beim
Abschluß jederzeit eine gewisse Differenz bleiben, die dem einzelnen Wissenden
angehört, und erst recht von der Unendlichkeit des Gegenstandes zeugt, mit
dem wir uns beschäftigen; es sey nun daß wir uns selbst, oder die Welt,
oder was über uns beyden ist, als Ziel, unserer Betrachtungen ins Auge fassen.

Nehmen Sie diese zutraulichen Aeußerungen freundlich auf, erhalten Sie
mir wohlwollende Gesinnungen und danken dem werthen Herrn Sauerländer
für die geneigte Mittheilung Ihrer Werke, die uns diesen Winter, in guter
Gesellschaft vorgelesen, gar manchen vergnügten, lehrreichen Abend verschafften.

Mich bestens empfehlend und alles Gute wünschend

Weimar, d. 28. März 1826.


ergebenst
I. W. v. Goethe.-



°) In einer Anmerkung wird auf Voethe's Farbenlehre hingewiesen.
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[0040] Moskau und der Wetterau von ihrem Mitgliede Z. gewidmet ist, heißt eS am Schlüsse (x. 61): „Die Lehre vom Licht gleicht darin der Sonne selbst, daß uns immer mehr Dunkelheit umgibt, je länger wir uns mit ihr be¬ schäftigen. Der größte Entdecker neuerer Zeit in diesen Gebieten menschlicher Erkenntniß, Fraunhofer, hinterläßt seinen Nachfolgern noch unermeßliche Strecken zu erobern; und des vielverherrlichten Sängers Ahnungen vom Ur¬ sprung der Farben*), als Kindern aus der Vermählung des Lichts und der Finsterniß entsprungen, zeigen in der Ferne auf eine neue Welt voll unent- schleierter Wunder hin." Auf diese Stelle der Schrift, welche Zschokke an Goethe gesendet, bezieht sich der Anfang des folgenden Briefes, welchen mir Herr Pfarrer Emil Zschokke zum Abdruck gütigst überlassen hat. Nur die Unterschrist ist von Goethe's eigner Hand. „Ew. Wohlgeb. Haben mir gefällig eine chromatische Arbeit übersendet, woraus ich er¬ sehe, daß Sie, der bisherigen Lehre zugethan, die Frucht meiner Bemühungen der Nachwelt überweisen. Ich kann es mir sehr wohl gefallen lassen und bin auf ein solches Geschick längst vorbereitet. Denn indem ich die Schritte der Mitlebenden, älteren und jüngeren, seit geraumer Zeit betrachte, bin ich zu ruhiger Ansicht gelangt, die ich etwa folgendermaßen aussprechen würde. Die Divergenzen der Forscher sind unvermeidlich, auch überzeugt man sich bei längerem Leben von der Unmöglichkeit irgend einer Art des Aus¬ gleichend Denn indem alles Urtheil aus den Prämissen entspringt, und, genau besehen, Jedermann von besonderen Prämissen ausgeht, so wird beim Abschluß jederzeit eine gewisse Differenz bleiben, die dem einzelnen Wissenden angehört, und erst recht von der Unendlichkeit des Gegenstandes zeugt, mit dem wir uns beschäftigen; es sey nun daß wir uns selbst, oder die Welt, oder was über uns beyden ist, als Ziel, unserer Betrachtungen ins Auge fassen. Nehmen Sie diese zutraulichen Aeußerungen freundlich auf, erhalten Sie mir wohlwollende Gesinnungen und danken dem werthen Herrn Sauerländer für die geneigte Mittheilung Ihrer Werke, die uns diesen Winter, in guter Gesellschaft vorgelesen, gar manchen vergnügten, lehrreichen Abend verschafften. Mich bestens empfehlend und alles Gute wünschend Weimar, d. 28. März 1826. ergebenst I. W. v. Goethe.- °) In einer Anmerkung wird auf Voethe's Farbenlehre hingewiesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/40>, abgerufen am 16.06.2024.