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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Das Ministerium OUivier.

X Der 3. Januar 1870 hat dem kaiserlichen Frankreich das parlamen¬
tarische Ministerium gebracht, das seit Wochen angekündigt war, aber erst
nach langen Kämpfen, die am Hof wie in den Parteien ausgefochten wurden,
das Licht des Tages erblickt hat. Während ein bevorstehender Minister¬
wechsel in Frankreich sonst das Signal zu allgemeinem Kampf der Wagen
und Gesänge abgab und auf jedes Portefeuille mindestens ein halbes Dutzend
Bewerber kam, hat es dieses Mal schwer gehalten, die Führer des linken
Centrums für den Eintritt in ein Cabinet zugewinnen, das längst durch die
Gewalt der Umstände indicirt war.

Ueber das Programm der neuen Lenker von Frankreichs Geschicken ist
jeder Zweifel ausgeschlossen: Friede nach Außen, Versöhnung der Freiheit
mit dem Kaiserthum nach Innen -- maßvolle Reform auf dem Gebiet der
Verwaltung, mannhafter Widerstand gegen die Lakayen in den Tuilerien
und im (Audh ä'^.reg.as, Entwaffnung der radicalen Schreier auf der Gasse
und auf der Tribüne, Befestigung der constituiionellen Ordnung, die dem
jungen Geschlecht als völlig Fremde entgegentritt, deren Traditionen selbst
den "alten Parteien" ziemlich gründlich abhanden gekommen sind.

In ganz Europa sind alle verständigen Leute, von den Neu-Conservativen
und Altliberalen bis in die zurechnungsfähigen Schichten der Demokratie hinein,
über die Löblichkeit dieser Ziele einig. Aber über die Erreichbarkeit derselben
auf dem beschrittenen Wege gehen die Meinungen schon gegenwärtig weit
auseinander. Die liberale Presse (im engeren Sinne des Worts) spricht sich
im Allgemeinen zufrieden aus und gibt den Herren Ollivier, Daru, Chevandier,
Tigris, M. Richard u. f. w. ihre besten Segenswünsche auf den Weg. Das
kaiserliche Decret an den gegenwärtigen Großsiegelbewahrer, Justiz- und
Cultusminister ist ein Musterstück constitutioneller Correctheit, das neue Mi¬
nisterium erscheint in Wahrheit als Ausdruck der parlamentarischen Majori¬
tät, ja die in das Cabinet berufenen Männer des linken Centrums bieten
sogar Bürgschaften dafür, daß auch die Wünsche und Forderungen der vor-
geschritteneren Liberalen Beachtung finden werden! Mehr kann von dem
Kaiser, der noch vor Kurzem absoluter Herrscher, Vertreter des persönlichen
Regiments und aller seiner Consequenzen war, nicht verlangt werden, er hat


Grenzboten 1.1870. 6
Das Ministerium OUivier.

X Der 3. Januar 1870 hat dem kaiserlichen Frankreich das parlamen¬
tarische Ministerium gebracht, das seit Wochen angekündigt war, aber erst
nach langen Kämpfen, die am Hof wie in den Parteien ausgefochten wurden,
das Licht des Tages erblickt hat. Während ein bevorstehender Minister¬
wechsel in Frankreich sonst das Signal zu allgemeinem Kampf der Wagen
und Gesänge abgab und auf jedes Portefeuille mindestens ein halbes Dutzend
Bewerber kam, hat es dieses Mal schwer gehalten, die Führer des linken
Centrums für den Eintritt in ein Cabinet zugewinnen, das längst durch die
Gewalt der Umstände indicirt war.

Ueber das Programm der neuen Lenker von Frankreichs Geschicken ist
jeder Zweifel ausgeschlossen: Friede nach Außen, Versöhnung der Freiheit
mit dem Kaiserthum nach Innen — maßvolle Reform auf dem Gebiet der
Verwaltung, mannhafter Widerstand gegen die Lakayen in den Tuilerien
und im (Audh ä'^.reg.as, Entwaffnung der radicalen Schreier auf der Gasse
und auf der Tribüne, Befestigung der constituiionellen Ordnung, die dem
jungen Geschlecht als völlig Fremde entgegentritt, deren Traditionen selbst
den „alten Parteien" ziemlich gründlich abhanden gekommen sind.

In ganz Europa sind alle verständigen Leute, von den Neu-Conservativen
und Altliberalen bis in die zurechnungsfähigen Schichten der Demokratie hinein,
über die Löblichkeit dieser Ziele einig. Aber über die Erreichbarkeit derselben
auf dem beschrittenen Wege gehen die Meinungen schon gegenwärtig weit
auseinander. Die liberale Presse (im engeren Sinne des Worts) spricht sich
im Allgemeinen zufrieden aus und gibt den Herren Ollivier, Daru, Chevandier,
Tigris, M. Richard u. f. w. ihre besten Segenswünsche auf den Weg. Das
kaiserliche Decret an den gegenwärtigen Großsiegelbewahrer, Justiz- und
Cultusminister ist ein Musterstück constitutioneller Correctheit, das neue Mi¬
nisterium erscheint in Wahrheit als Ausdruck der parlamentarischen Majori¬
tät, ja die in das Cabinet berufenen Männer des linken Centrums bieten
sogar Bürgschaften dafür, daß auch die Wünsche und Forderungen der vor-
geschritteneren Liberalen Beachtung finden werden! Mehr kann von dem
Kaiser, der noch vor Kurzem absoluter Herrscher, Vertreter des persönlichen
Regiments und aller seiner Consequenzen war, nicht verlangt werden, er hat


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[0047] Das Ministerium OUivier. X Der 3. Januar 1870 hat dem kaiserlichen Frankreich das parlamen¬ tarische Ministerium gebracht, das seit Wochen angekündigt war, aber erst nach langen Kämpfen, die am Hof wie in den Parteien ausgefochten wurden, das Licht des Tages erblickt hat. Während ein bevorstehender Minister¬ wechsel in Frankreich sonst das Signal zu allgemeinem Kampf der Wagen und Gesänge abgab und auf jedes Portefeuille mindestens ein halbes Dutzend Bewerber kam, hat es dieses Mal schwer gehalten, die Führer des linken Centrums für den Eintritt in ein Cabinet zugewinnen, das längst durch die Gewalt der Umstände indicirt war. Ueber das Programm der neuen Lenker von Frankreichs Geschicken ist jeder Zweifel ausgeschlossen: Friede nach Außen, Versöhnung der Freiheit mit dem Kaiserthum nach Innen — maßvolle Reform auf dem Gebiet der Verwaltung, mannhafter Widerstand gegen die Lakayen in den Tuilerien und im (Audh ä'^.reg.as, Entwaffnung der radicalen Schreier auf der Gasse und auf der Tribüne, Befestigung der constituiionellen Ordnung, die dem jungen Geschlecht als völlig Fremde entgegentritt, deren Traditionen selbst den „alten Parteien" ziemlich gründlich abhanden gekommen sind. In ganz Europa sind alle verständigen Leute, von den Neu-Conservativen und Altliberalen bis in die zurechnungsfähigen Schichten der Demokratie hinein, über die Löblichkeit dieser Ziele einig. Aber über die Erreichbarkeit derselben auf dem beschrittenen Wege gehen die Meinungen schon gegenwärtig weit auseinander. Die liberale Presse (im engeren Sinne des Worts) spricht sich im Allgemeinen zufrieden aus und gibt den Herren Ollivier, Daru, Chevandier, Tigris, M. Richard u. f. w. ihre besten Segenswünsche auf den Weg. Das kaiserliche Decret an den gegenwärtigen Großsiegelbewahrer, Justiz- und Cultusminister ist ein Musterstück constitutioneller Correctheit, das neue Mi¬ nisterium erscheint in Wahrheit als Ausdruck der parlamentarischen Majori¬ tät, ja die in das Cabinet berufenen Männer des linken Centrums bieten sogar Bürgschaften dafür, daß auch die Wünsche und Forderungen der vor- geschritteneren Liberalen Beachtung finden werden! Mehr kann von dem Kaiser, der noch vor Kurzem absoluter Herrscher, Vertreter des persönlichen Regiments und aller seiner Consequenzen war, nicht verlangt werden, er hat Grenzboten 1.1870. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/47>, abgerufen am 16.06.2024.