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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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das Mögliche gethan und bewiesen, daß er seine Zeit, daß er die Lage Frank¬
reichs versteht. An den Franzosen ist es jetzt, sich der Segnungen der Frei¬
heit und des kaiserlichen Vertrauens würdig zu beweisen, das konstitutionelle
System durch maßvolle Benutzung der errungenen Rechte zu befestigen und
der Welt zu beweisen, daß die Alternative: Krieg oder innere Freiheit nicht
mehr besteht.

So lautet im Großen und Ganzen das Urtheil der liberalen Partei,
die Meinung der Männer, welche die richtige Mitte zwischen Despotismus
und Anarchie zu vertreten glauben. Weil den äußeren Forderungen und
Bedingungen der konstitutionellen Doctrin genug gethan worden ist, erklären
sie sich befriedigt, glauben sie aus eine ersprießliche Entwickelung des consti-
tutionellen Systems in Frankreich rechnen zu können. Der Kaiser hat seine
Bereitwilligkeit zum Gehorsam gegen die Volkswünsche ausgesprochen, an der
Volksvertretung ist es, ein Uebriges zu thun, über die zweifelhaften Umstände
hinwegzusehen, welche ihre Entstehung bedingten und auf dem einmal vor¬
handenen Fundament weiter zu bauen. -- Anders urtheilen die Organe der
Demokratie. Ihrer Meinung nach sind die Bedingungen eines parlamem
darischen guten Gewissens noch nicht erfüllt. Denn das Ministerium Ollivier
repräsentirt nur die Majorität einer aus unfreien und corrumpirten Wahlen
hervorgegangenen Volksvertretung. Auf eine heilsame Zukunft Frankreichs
glaubt man von dieser Seite nur rechnen zu können (englische Blätter haben
diese Meinung unterstützt), wenn das gegenwärtige Lvrxg I^gislatik aufgelöst
und eine Neuwahl ausgeschrieben wird, von welcher Präfecten, Mair's und
officielle Candidaten sich fern halten. Ollivier -- so wird weiter geurtheilt
-- ist ein Halber, er hat mit dem Eonstitutionalismus nicht Ernst gemacht,
er will zwischen dem alten und dem neuen System vermitteln und behält
eine Kammer bei, die vor dem liberalen Gewissen nicht bestehen kann. Darum
wild und muß er Fiasko machen und Frankreich wird erst befriedigt sein,
wenn ganze Liberale an seine Spitze treten und von keiner andern Majorität
wissen wollen, als der einer frei gewählten Kammer.

Der neuen Regierung Napoleons III. ein sicheres Horoskop zu stellen,
vermag schwerlich irgend Jemand in Europa. Das aber läßt sich mit Ge¬
wißheit sagen, daß die Argumente für und wider, welche wir oben zusammen¬
gestellt haben, dem Wesen der Sache gleich fern bleiben und daß nur der
unbelehrbare Doktrinarismus annehmen kann, die Zukunft Frankreichs weroe
davon abhängig sein, ob die Forderungen des constitutionellen Katechismus
ganz oder nur zur Hülste, bis aus den letzten Buchstaben oder nur dem
Geiste nach erfüllt sind. Für die Schwierigkeiten, welche Ollivier und
Genossen zu überwinden haben und an denen sie, wie auch wir glauben,
scheitern müssen, ist es vollständig gleichgiltig, ob sie halbe oder entschiedene


das Mögliche gethan und bewiesen, daß er seine Zeit, daß er die Lage Frank¬
reichs versteht. An den Franzosen ist es jetzt, sich der Segnungen der Frei¬
heit und des kaiserlichen Vertrauens würdig zu beweisen, das konstitutionelle
System durch maßvolle Benutzung der errungenen Rechte zu befestigen und
der Welt zu beweisen, daß die Alternative: Krieg oder innere Freiheit nicht
mehr besteht.

So lautet im Großen und Ganzen das Urtheil der liberalen Partei,
die Meinung der Männer, welche die richtige Mitte zwischen Despotismus
und Anarchie zu vertreten glauben. Weil den äußeren Forderungen und
Bedingungen der konstitutionellen Doctrin genug gethan worden ist, erklären
sie sich befriedigt, glauben sie aus eine ersprießliche Entwickelung des consti-
tutionellen Systems in Frankreich rechnen zu können. Der Kaiser hat seine
Bereitwilligkeit zum Gehorsam gegen die Volkswünsche ausgesprochen, an der
Volksvertretung ist es, ein Uebriges zu thun, über die zweifelhaften Umstände
hinwegzusehen, welche ihre Entstehung bedingten und auf dem einmal vor¬
handenen Fundament weiter zu bauen. — Anders urtheilen die Organe der
Demokratie. Ihrer Meinung nach sind die Bedingungen eines parlamem
darischen guten Gewissens noch nicht erfüllt. Denn das Ministerium Ollivier
repräsentirt nur die Majorität einer aus unfreien und corrumpirten Wahlen
hervorgegangenen Volksvertretung. Auf eine heilsame Zukunft Frankreichs
glaubt man von dieser Seite nur rechnen zu können (englische Blätter haben
diese Meinung unterstützt), wenn das gegenwärtige Lvrxg I^gislatik aufgelöst
und eine Neuwahl ausgeschrieben wird, von welcher Präfecten, Mair's und
officielle Candidaten sich fern halten. Ollivier — so wird weiter geurtheilt
— ist ein Halber, er hat mit dem Eonstitutionalismus nicht Ernst gemacht,
er will zwischen dem alten und dem neuen System vermitteln und behält
eine Kammer bei, die vor dem liberalen Gewissen nicht bestehen kann. Darum
wild und muß er Fiasko machen und Frankreich wird erst befriedigt sein,
wenn ganze Liberale an seine Spitze treten und von keiner andern Majorität
wissen wollen, als der einer frei gewählten Kammer.

Der neuen Regierung Napoleons III. ein sicheres Horoskop zu stellen,
vermag schwerlich irgend Jemand in Europa. Das aber läßt sich mit Ge¬
wißheit sagen, daß die Argumente für und wider, welche wir oben zusammen¬
gestellt haben, dem Wesen der Sache gleich fern bleiben und daß nur der
unbelehrbare Doktrinarismus annehmen kann, die Zukunft Frankreichs weroe
davon abhängig sein, ob die Forderungen des constitutionellen Katechismus
ganz oder nur zur Hülste, bis aus den letzten Buchstaben oder nur dem
Geiste nach erfüllt sind. Für die Schwierigkeiten, welche Ollivier und
Genossen zu überwinden haben und an denen sie, wie auch wir glauben,
scheitern müssen, ist es vollständig gleichgiltig, ob sie halbe oder entschiedene


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/48>, abgerufen am 16.06.2024.