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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Wisraeli's "Lothair".

I^otbsir do MZI^ HonorMo V1fra.o1i. 3 voll. I^onäau 1870.

Die beiden literarischen Ereignisse der diesjährigen Londoner season
waren Dickens letzter Roman "Edwin Drood's Geheimniß" und Disraelis
"Lothair". Aber während dem populärsten englischen Dichter der Neuzeit
die Feder im Schreiben entsank und sein Auge sich für immer schloß, steht die
seltsame Sphinxgestalt des ExPremiers, der an der Schwelle des Greisenalters
zu seiner Jugendliebe, dem Roman, zurückgekehrt ist, aufrecht da; mit sarka¬
stischen Kacheln sieht der Verfasser des Lothair auf die Sensation, die sein
Buch macht, aus den Ingrimm der getroffenen Gegner, und gelassen streicht
er den goldnen Segen er.n, den ihm die rasch auf einander folgenden Auf¬
lagen bringen. Die Aufregung des Publikums ist erklärlich genug, wenn
Man erwägt, daß Disraeit mit einer bisher wohl unerhörten Keckheit fast
nander lebende Personen auftreten läßt und dabei kein Bedenken getragen
hat. die ihm mißliebigen in ähnlicher Weise zu behandeln wie Dante und
Michel Angelo ihre Feinde in die Hölle verfolgten. Der Marquis of Bude, der
Herzog von Abercorn, der Erzbischof Manning, Monfignore Capet der Bi¬
schof von Oxford, der Herzog von Sutherland. Professor Goldwin Smith,
Lady Herbert, der frühere französische Botschafter Fürst Latour, Mazzini:e.
sind so unverhüllt gezeichnet, daß jeder mit Fingern auf sie weisen muß,
der sich in der heutigen englischen Gesellschaft bewegt hat; selbst der Kaiser
Napoleon tritt gelegentlich im Hintergrunde als "Er" auf. Vor unsern Augen
spielen die irische Kirchenbill, die Schlacht von Mendana und die Vorberei¬
tungen zum Concil. Aber fast alle Charaktere sind übertrieben und in Ver¬
bindung mit Geschöpfen und Begebenheiten der Phantasie gebracht; auch das
englische Leben auf den Schlössern des Adels und in den Drawing-Novus
der Hauptstadt, so anziehend es geschildert ist, trägt oft Farben, die dem,
welcher es aus eigener Anschauung kennt, unwillkürlich ein Lächeln entlocken
müssen. Fast immer läßt der Verfasser sich von seiner Neigung hinreißen zu
übertreiben und die Herzöge und Gräfinnen wie Romanhelden reden zu
lassen; ist er doch selbst so weit entfernt von der Einfachheit eines englischen
Gentleman!

Der Held der Geschichte. "Lothair", ist der Mge Marquis von Bude. der.
vor kurzem bei seiner Mündigkeit der Erbe großer Reichthümer ward, die sich
während seiner langen Minderjährigkeit angehäuft hatten. Während seiner
Oxforder Studien gewann eine geistvolle Coupe,^klein, Lady Herbert of Lea,
die Wittwe des verstorbenen Kriegsministers, einen solchen Einfluß auf d"'^
jungen Mann, daß er bald nach seiner Mündigkeitserklärung zum KatholiciK.


Wisraeli's „Lothair".

I^otbsir do MZI^ HonorMo V1fra.o1i. 3 voll. I^onäau 1870.

Die beiden literarischen Ereignisse der diesjährigen Londoner season
waren Dickens letzter Roman „Edwin Drood's Geheimniß" und Disraelis
„Lothair". Aber während dem populärsten englischen Dichter der Neuzeit
die Feder im Schreiben entsank und sein Auge sich für immer schloß, steht die
seltsame Sphinxgestalt des ExPremiers, der an der Schwelle des Greisenalters
zu seiner Jugendliebe, dem Roman, zurückgekehrt ist, aufrecht da; mit sarka¬
stischen Kacheln sieht der Verfasser des Lothair auf die Sensation, die sein
Buch macht, aus den Ingrimm der getroffenen Gegner, und gelassen streicht
er den goldnen Segen er.n, den ihm die rasch auf einander folgenden Auf¬
lagen bringen. Die Aufregung des Publikums ist erklärlich genug, wenn
Man erwägt, daß Disraeit mit einer bisher wohl unerhörten Keckheit fast
nander lebende Personen auftreten läßt und dabei kein Bedenken getragen
hat. die ihm mißliebigen in ähnlicher Weise zu behandeln wie Dante und
Michel Angelo ihre Feinde in die Hölle verfolgten. Der Marquis of Bude, der
Herzog von Abercorn, der Erzbischof Manning, Monfignore Capet der Bi¬
schof von Oxford, der Herzog von Sutherland. Professor Goldwin Smith,
Lady Herbert, der frühere französische Botschafter Fürst Latour, Mazzini:e.
sind so unverhüllt gezeichnet, daß jeder mit Fingern auf sie weisen muß,
der sich in der heutigen englischen Gesellschaft bewegt hat; selbst der Kaiser
Napoleon tritt gelegentlich im Hintergrunde als „Er" auf. Vor unsern Augen
spielen die irische Kirchenbill, die Schlacht von Mendana und die Vorberei¬
tungen zum Concil. Aber fast alle Charaktere sind übertrieben und in Ver¬
bindung mit Geschöpfen und Begebenheiten der Phantasie gebracht; auch das
englische Leben auf den Schlössern des Adels und in den Drawing-Novus
der Hauptstadt, so anziehend es geschildert ist, trägt oft Farben, die dem,
welcher es aus eigener Anschauung kennt, unwillkürlich ein Lächeln entlocken
müssen. Fast immer läßt der Verfasser sich von seiner Neigung hinreißen zu
übertreiben und die Herzöge und Gräfinnen wie Romanhelden reden zu
lassen; ist er doch selbst so weit entfernt von der Einfachheit eines englischen
Gentleman!

Der Held der Geschichte. „Lothair", ist der Mge Marquis von Bude. der.
vor kurzem bei seiner Mündigkeit der Erbe großer Reichthümer ward, die sich
während seiner langen Minderjährigkeit angehäuft hatten. Während seiner
Oxforder Studien gewann eine geistvolle Coupe,^klein, Lady Herbert of Lea,
die Wittwe des verstorbenen Kriegsministers, einen solchen Einfluß auf d»'^
jungen Mann, daß er bald nach seiner Mündigkeitserklärung zum KatholiciK.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/109>, abgerufen am 17.06.2024.