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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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verfahren im Wesentlichen das einzuwenden, daß es von den Prüfungen'theils
überhaupt Dinge verlangt, auf die für die Sicherheit der Fahrt nichts an¬
kommt, theils schon im Steuermannseramen Leistungen, die füglich bis zum
Schiffer- oder Capitänsexamen warten können. Sie behaupten einerseits, daß
der Prüfungszwang, da er eine ausnahmsweise Belastung einiger weniger
Gewerbe innerhalb der übrigens herrschenden allgemeinen Gewerbefreiheit sei,
strict interpretirt und auf das schlechthin Nothwendige beschränkt, d. h. aus¬
schließlich auf die Sicherheit der Fahrt gerichtet werden müsse; und anderen-
theils gehen sie von der Thatsache aus, daß die auch bisher schon schärfer
geprüften Ostseeschiffer den bisher gelinder behandelten Nordseeschiffern durch¬
schnittlich jedenfalls nicht überlegen sind. Indeß haben die Wortführer des
Nordseeverfahrens -- innerhalb dessen allerdings auch noch Abweichungen
genug bestehen -- weder auf der Sachverständigenconferenz zu Berlin im
Januar und Februar 1869, noch später im Bundesrath mehr als einzelne
Zugeständnisse an ihren Standpunkt durchzusetzen vermocht. Auf den nahe¬
liegenden Ausweg, für die Nordsee ein anderes Verfahren einzuführen, als
für die Ostsee, ist man unter dem Druck des herrschenden Wunsches nach
Freizügigkeit der Seeleute längs der ganzen nationalen Küste gar nicht ver¬
fallen. Der fortdauernde Gegensatz und der stille, unter der Decke spielende
Kampf wird daher als ein kräftiges Zerstörungsmittel des Aberglaubens an
die Nothwendigkeit der Staatsgesetzgebung überhaupt wirken. Einstweilen
haben die zahlreichen und lebhaften Proteste von der Nordsee her gegen das
die Ostsee begünstigende halbe Compromiß des Bundesraths dem Bundes¬
kanzler soweit imponirt, daß er baldige Revision des Verfahrens protokollarisch
zugesagt hat; und sollte er dessen nicht rechtzeitig eingedenk sein, so wird der
Reichstag die Befugniß, ein Wörtchen mitzureden, reclamiren müssen, auf
welche er dem Präsidenten Delbrück zu Gefallen vorläufig verzichtet hat. --

Der deutsche nautische Verein hat sich auf seiner Jahresversammlung
zu Berlin im Februar für Seegerichte erklärt, und der Vorstand dann
eine Druckschrift zur Begründung und Substantiirung dieser zeitgemäßen For¬
derung, aus den Reden des Vorsitzenden H. Tecklenborg, an das Bundes¬
kanzleramt gelangen lassen, welches sie an die Commission zur Entwerfung
einer nationalen Civilproceßordnung weiter gegeben hat. Man muß also
abwarten, was das zeitgenössische juristische Bewußtsein zu diesem neuen
Attentat auf das richterliche Monopol der Rechtsgelehrten sagen wird. In
nautischen und commerciellen Kreisen scheinen neuerdings einige Zweifel auf¬
getaucht zu sein, ob es wohl rathsam sei, die Stimmenmehrheit in solchen
Gerichten auf Ex-Capitäne zu übertragen; zumal nach einem in Bremen ge¬
führten Prozeß wegen Mißhandlung einer widersetzlichen Mannschaft, dessen
Thatbestand ein grelles Licht auf die unter Capitänen bestehende unbedingte
Solidarität warf.




verfahren im Wesentlichen das einzuwenden, daß es von den Prüfungen'theils
überhaupt Dinge verlangt, auf die für die Sicherheit der Fahrt nichts an¬
kommt, theils schon im Steuermannseramen Leistungen, die füglich bis zum
Schiffer- oder Capitänsexamen warten können. Sie behaupten einerseits, daß
der Prüfungszwang, da er eine ausnahmsweise Belastung einiger weniger
Gewerbe innerhalb der übrigens herrschenden allgemeinen Gewerbefreiheit sei,
strict interpretirt und auf das schlechthin Nothwendige beschränkt, d. h. aus¬
schließlich auf die Sicherheit der Fahrt gerichtet werden müsse; und anderen-
theils gehen sie von der Thatsache aus, daß die auch bisher schon schärfer
geprüften Ostseeschiffer den bisher gelinder behandelten Nordseeschiffern durch¬
schnittlich jedenfalls nicht überlegen sind. Indeß haben die Wortführer des
Nordseeverfahrens — innerhalb dessen allerdings auch noch Abweichungen
genug bestehen — weder auf der Sachverständigenconferenz zu Berlin im
Januar und Februar 1869, noch später im Bundesrath mehr als einzelne
Zugeständnisse an ihren Standpunkt durchzusetzen vermocht. Auf den nahe¬
liegenden Ausweg, für die Nordsee ein anderes Verfahren einzuführen, als
für die Ostsee, ist man unter dem Druck des herrschenden Wunsches nach
Freizügigkeit der Seeleute längs der ganzen nationalen Küste gar nicht ver¬
fallen. Der fortdauernde Gegensatz und der stille, unter der Decke spielende
Kampf wird daher als ein kräftiges Zerstörungsmittel des Aberglaubens an
die Nothwendigkeit der Staatsgesetzgebung überhaupt wirken. Einstweilen
haben die zahlreichen und lebhaften Proteste von der Nordsee her gegen das
die Ostsee begünstigende halbe Compromiß des Bundesraths dem Bundes¬
kanzler soweit imponirt, daß er baldige Revision des Verfahrens protokollarisch
zugesagt hat; und sollte er dessen nicht rechtzeitig eingedenk sein, so wird der
Reichstag die Befugniß, ein Wörtchen mitzureden, reclamiren müssen, auf
welche er dem Präsidenten Delbrück zu Gefallen vorläufig verzichtet hat. —

Der deutsche nautische Verein hat sich auf seiner Jahresversammlung
zu Berlin im Februar für Seegerichte erklärt, und der Vorstand dann
eine Druckschrift zur Begründung und Substantiirung dieser zeitgemäßen For¬
derung, aus den Reden des Vorsitzenden H. Tecklenborg, an das Bundes¬
kanzleramt gelangen lassen, welches sie an die Commission zur Entwerfung
einer nationalen Civilproceßordnung weiter gegeben hat. Man muß also
abwarten, was das zeitgenössische juristische Bewußtsein zu diesem neuen
Attentat auf das richterliche Monopol der Rechtsgelehrten sagen wird. In
nautischen und commerciellen Kreisen scheinen neuerdings einige Zweifel auf¬
getaucht zu sein, ob es wohl rathsam sei, die Stimmenmehrheit in solchen
Gerichten auf Ex-Capitäne zu übertragen; zumal nach einem in Bremen ge¬
führten Prozeß wegen Mißhandlung einer widersetzlichen Mannschaft, dessen
Thatbestand ein grelles Licht auf die unter Capitänen bestehende unbedingte
Solidarität warf.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/120>, abgerufen am 17.06.2024.