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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Die große Frage, um deren Beantwortung es sich bei der Beurtheilung
der französischen Verhältnisse, bei allen Vermuthungen über Frankreichs Zu¬
kunft handelt, ist also, ob der Kaiser die Fähigkeit besitze, nach Zertrümme-
rung seines eigensten Werkes, nach Abnutzung aller Persönlichkeiten, die, so-
weit eine solche Hingebung überhaupt in Frankreich an der Tagesordnung
ist, ihr Geschick an das seinige geknüpft, nach den vernichtenden, gegen seine
Familie und gegen seine Person gerichteten Angriffen, bei dem glühenden,
eine Zeit lang verdeckten, aber keineswegs erloschenen Hasse, mit dem ihn
die 1861 besiegten Parteien verfolgen, -- ob er nach allen Niederlagen, die
er erfahren, trotz aller Gefahren, die ihn umringen, noch die Fähigkeit und
Kraft und zugleich den aufrichtigen Willen besitze, eine neue Schule bisher
nur im Kampf gegen ihn erprobter Staatsmänner um sich zu sammeln, ihre
Rivalitäten auszugleichen, und durch sie die öffentliche Meinung des Landes
an seine Person und Dynastie zu fesseln. Wir stehen hier nicht blos vor
einem politischen, sondern vor einem zum großen Theil psychologischen Pro¬
blem, dessen Lösung der Zukunft vorbehalten bleibt. Den einzigen Anhalt
zu Vermuthungen über das Endurtheil der Geschichte kann uns nur ein Rück¬
blick auf das Leben und die bisherigen Thaten des merkwürdigen Mannes
gewähren, der vor zehn Jahren der Schiedsrichter Europas, durch persönliche
Fehler und die innere Schwäche seines Systems so tief gedemüthigt worden
ist, daß er einige Monate hindurch mit den Rocheforts, Raspails und Flou-
rens um seine Existenz zu kämpfen hatte. --

Ein Leben wie das Napoleons fordert die Thätigkeit der Geschichts¬
forschung heraus und besondere Verhältnisse haben es ihr schon bis jetzt
möglich gemacht, reichliches Material zu sammeln und zu einer Gesammt-
darstellung zusammenzufassen. Napoleons wechselvolle und doch von einem
Gedanken beherrschte und auf ein durch keine Niederlage, keine Demüthigung
zu verrückendes Ziel gerichtete Laufbahn, seine wiederholten Verschwörungen,
seine leichtsinnigen Jugendstreiche, seine Gefangenschaft und Verbannung,
seine Wahl zum Abgeordneten der Stadt Paris, sein keckes Emporsteigen
vom Abgeordnetensitz durch die Zwischenstufe der Präsidentschaft zum Kaiser¬
thron: alles dies vollzog sich vor den Augen argwöhnischer Beobachter, die
nicht gesäumt haben, ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu veröffentlichen.
Natürlich ist diese reiche Broschürenliteratur nur mit großer Vorsicht zu ge¬
brauchen. Alle Schriften über den Staatsstreich, mögen sie von imperia¬
listischer oder republikanischer Seite ausgehen, verfolgen politische Zwecke; sie
wollen gar nicht der Erforschung der geschichtlichen Wahrheit dienen, son¬
dern eigene Fehler und Irrthümer beschönigen oder erklären, fremde Gewalt¬
thaten brandmarken; sie setzen den Kampf der Jahre 1848--1851 fort, als
Plaidoyers für oder gegen den Usurpator nicht sowohl vor dem Richterstuhl


Die große Frage, um deren Beantwortung es sich bei der Beurtheilung
der französischen Verhältnisse, bei allen Vermuthungen über Frankreichs Zu¬
kunft handelt, ist also, ob der Kaiser die Fähigkeit besitze, nach Zertrümme-
rung seines eigensten Werkes, nach Abnutzung aller Persönlichkeiten, die, so-
weit eine solche Hingebung überhaupt in Frankreich an der Tagesordnung
ist, ihr Geschick an das seinige geknüpft, nach den vernichtenden, gegen seine
Familie und gegen seine Person gerichteten Angriffen, bei dem glühenden,
eine Zeit lang verdeckten, aber keineswegs erloschenen Hasse, mit dem ihn
die 1861 besiegten Parteien verfolgen, — ob er nach allen Niederlagen, die
er erfahren, trotz aller Gefahren, die ihn umringen, noch die Fähigkeit und
Kraft und zugleich den aufrichtigen Willen besitze, eine neue Schule bisher
nur im Kampf gegen ihn erprobter Staatsmänner um sich zu sammeln, ihre
Rivalitäten auszugleichen, und durch sie die öffentliche Meinung des Landes
an seine Person und Dynastie zu fesseln. Wir stehen hier nicht blos vor
einem politischen, sondern vor einem zum großen Theil psychologischen Pro¬
blem, dessen Lösung der Zukunft vorbehalten bleibt. Den einzigen Anhalt
zu Vermuthungen über das Endurtheil der Geschichte kann uns nur ein Rück¬
blick auf das Leben und die bisherigen Thaten des merkwürdigen Mannes
gewähren, der vor zehn Jahren der Schiedsrichter Europas, durch persönliche
Fehler und die innere Schwäche seines Systems so tief gedemüthigt worden
ist, daß er einige Monate hindurch mit den Rocheforts, Raspails und Flou-
rens um seine Existenz zu kämpfen hatte. —

Ein Leben wie das Napoleons fordert die Thätigkeit der Geschichts¬
forschung heraus und besondere Verhältnisse haben es ihr schon bis jetzt
möglich gemacht, reichliches Material zu sammeln und zu einer Gesammt-
darstellung zusammenzufassen. Napoleons wechselvolle und doch von einem
Gedanken beherrschte und auf ein durch keine Niederlage, keine Demüthigung
zu verrückendes Ziel gerichtete Laufbahn, seine wiederholten Verschwörungen,
seine leichtsinnigen Jugendstreiche, seine Gefangenschaft und Verbannung,
seine Wahl zum Abgeordneten der Stadt Paris, sein keckes Emporsteigen
vom Abgeordnetensitz durch die Zwischenstufe der Präsidentschaft zum Kaiser¬
thron: alles dies vollzog sich vor den Augen argwöhnischer Beobachter, die
nicht gesäumt haben, ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu veröffentlichen.
Natürlich ist diese reiche Broschürenliteratur nur mit großer Vorsicht zu ge¬
brauchen. Alle Schriften über den Staatsstreich, mögen sie von imperia¬
listischer oder republikanischer Seite ausgehen, verfolgen politische Zwecke; sie
wollen gar nicht der Erforschung der geschichtlichen Wahrheit dienen, son¬
dern eigene Fehler und Irrthümer beschönigen oder erklären, fremde Gewalt¬
thaten brandmarken; sie setzen den Kampf der Jahre 1848—1851 fort, als
Plaidoyers für oder gegen den Usurpator nicht sowohl vor dem Richterstuhl


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[0138] Die große Frage, um deren Beantwortung es sich bei der Beurtheilung der französischen Verhältnisse, bei allen Vermuthungen über Frankreichs Zu¬ kunft handelt, ist also, ob der Kaiser die Fähigkeit besitze, nach Zertrümme- rung seines eigensten Werkes, nach Abnutzung aller Persönlichkeiten, die, so- weit eine solche Hingebung überhaupt in Frankreich an der Tagesordnung ist, ihr Geschick an das seinige geknüpft, nach den vernichtenden, gegen seine Familie und gegen seine Person gerichteten Angriffen, bei dem glühenden, eine Zeit lang verdeckten, aber keineswegs erloschenen Hasse, mit dem ihn die 1861 besiegten Parteien verfolgen, — ob er nach allen Niederlagen, die er erfahren, trotz aller Gefahren, die ihn umringen, noch die Fähigkeit und Kraft und zugleich den aufrichtigen Willen besitze, eine neue Schule bisher nur im Kampf gegen ihn erprobter Staatsmänner um sich zu sammeln, ihre Rivalitäten auszugleichen, und durch sie die öffentliche Meinung des Landes an seine Person und Dynastie zu fesseln. Wir stehen hier nicht blos vor einem politischen, sondern vor einem zum großen Theil psychologischen Pro¬ blem, dessen Lösung der Zukunft vorbehalten bleibt. Den einzigen Anhalt zu Vermuthungen über das Endurtheil der Geschichte kann uns nur ein Rück¬ blick auf das Leben und die bisherigen Thaten des merkwürdigen Mannes gewähren, der vor zehn Jahren der Schiedsrichter Europas, durch persönliche Fehler und die innere Schwäche seines Systems so tief gedemüthigt worden ist, daß er einige Monate hindurch mit den Rocheforts, Raspails und Flou- rens um seine Existenz zu kämpfen hatte. — Ein Leben wie das Napoleons fordert die Thätigkeit der Geschichts¬ forschung heraus und besondere Verhältnisse haben es ihr schon bis jetzt möglich gemacht, reichliches Material zu sammeln und zu einer Gesammt- darstellung zusammenzufassen. Napoleons wechselvolle und doch von einem Gedanken beherrschte und auf ein durch keine Niederlage, keine Demüthigung zu verrückendes Ziel gerichtete Laufbahn, seine wiederholten Verschwörungen, seine leichtsinnigen Jugendstreiche, seine Gefangenschaft und Verbannung, seine Wahl zum Abgeordneten der Stadt Paris, sein keckes Emporsteigen vom Abgeordnetensitz durch die Zwischenstufe der Präsidentschaft zum Kaiser¬ thron: alles dies vollzog sich vor den Augen argwöhnischer Beobachter, die nicht gesäumt haben, ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu veröffentlichen. Natürlich ist diese reiche Broschürenliteratur nur mit großer Vorsicht zu ge¬ brauchen. Alle Schriften über den Staatsstreich, mögen sie von imperia¬ listischer oder republikanischer Seite ausgehen, verfolgen politische Zwecke; sie wollen gar nicht der Erforschung der geschichtlichen Wahrheit dienen, son¬ dern eigene Fehler und Irrthümer beschönigen oder erklären, fremde Gewalt¬ thaten brandmarken; sie setzen den Kampf der Jahre 1848—1851 fort, als Plaidoyers für oder gegen den Usurpator nicht sowohl vor dem Richterstuhl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/138>, abgerufen am 17.06.2024.