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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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der Geschichte, als vielmehr des französischen Volkes, an dessen Urtheil die
Besiegten wie die Sieger des zweiten Decembers appelliren. -- Was die
bisherigen kriegerischen Unternehmungen des Kaisers betrifft, so stimmt das
Urtheil der politischen und militärischen Berichterstatter im Großen und
Ganzen überein und dürfte aus späterem Quellenstudium wohl nur in Ein-
zelheiten Berichtigungen und Ergänzungen erfahren. Ueber den politischen
Werth der mexicanischen Expedition aber, die nach unserer Ansicht nicht den
Wendepunkt in der Geschichte des Kaisers bezeichnet, sondern ein Versuch ist,
durch ein verzweifeltes, auf die leichtfertigsten Berechnungen hin unternom¬
menes Abenteuer den Glanz des bereits im Verglühen gegriffenen kaiserlichen
Sterns neu aufzufrischen, ist das Urtheil endgiltig gesprochen. Nur darüber
könnten vielleicht die Meinungen schwanken, ob der unvermeidliche Rückzug
Napoleons nicht mit einer Erfüllung der Ehrenpflichten gegen seinen Verbün¬
deten vereinbar gewesen wäre, ob es nothwendig war, das Werkzeug seines
Ehrgeizes auch zum Opfer seiner Schwäche zu machen. Ziehen wir indessen
die Mittheilungen der Mithandelnden zu Rathe (aus die wir in einem fol¬
genden Artikel näher einzugehen Veranlassung haben werden), so scheint es
uns unzweifelhaft, daß die Treulosigkeit des Kaisers gegen Maximilian der
Scheu entsprungen ist, rechtzeitig und offen die Niederlage vor sich und der
Welt einzugestehn.

Napoleon war nach Ntederwerfnng der nordamerikanischen Sclaven¬
staaten in eine Lage gebracht, aus der er sich um jeden Preis befreien mußte.
Statt rasch und offen den Kaiser Maximilian über die Lage der Dinge auf¬
zuklären, zögerte er unentschlossen so lange, bis er gar nicht mehr die Wahl
zwischen einem ehrenvollen und schimpflichen Rückzug hatte. Seine lang¬
same Bedächtigkeit im Erwägen und Calculiren hatte ihn nicht vor der Ge¬
fahr geschützt, sich in ein unsinniges Abenteuer zu stürzen, vielmehr hatte
seine unruhige, ewig planende Einbildungskraft in einer unglücklichen Stunde
über den kühl und langsam berechnenden Verstand den Sieg davon getragen.
In der Gefahr, da nur ein rascher Entschluß seine Ehre retten konnte, ge"
manu wieder die etwas schwerfällige Bedächtigkeit seines Temperaments sehr
zur Unzeit die Oberhand und verwickelte seinen Schützling in die tragische
Katastrophe, welche der Welt nicht nur die Schwäche des kaiserlichen Frank¬
reichs offenbart, sondern auch das Vertrauen in die Person des Kaisers aufs
Tiefste erschüttert hat.

Auf eigenen Beobachtungen und dem sorgfältigen Studium der zahl-
reichen sehr verschieden gefärbten Berichte der den Begebenheiten näher stehen¬
den, zum Theil mithandelnden Zeitgenossen, auf deren Aufzählung wir in¬
dessen verzichten, beruht das umfassende Werk Taxtle Delord's: Ilistoire
Zu seoouä Lmxire, dessen erster Band die Geschichte der Präsidentschaft


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der Geschichte, als vielmehr des französischen Volkes, an dessen Urtheil die
Besiegten wie die Sieger des zweiten Decembers appelliren. — Was die
bisherigen kriegerischen Unternehmungen des Kaisers betrifft, so stimmt das
Urtheil der politischen und militärischen Berichterstatter im Großen und
Ganzen überein und dürfte aus späterem Quellenstudium wohl nur in Ein-
zelheiten Berichtigungen und Ergänzungen erfahren. Ueber den politischen
Werth der mexicanischen Expedition aber, die nach unserer Ansicht nicht den
Wendepunkt in der Geschichte des Kaisers bezeichnet, sondern ein Versuch ist,
durch ein verzweifeltes, auf die leichtfertigsten Berechnungen hin unternom¬
menes Abenteuer den Glanz des bereits im Verglühen gegriffenen kaiserlichen
Sterns neu aufzufrischen, ist das Urtheil endgiltig gesprochen. Nur darüber
könnten vielleicht die Meinungen schwanken, ob der unvermeidliche Rückzug
Napoleons nicht mit einer Erfüllung der Ehrenpflichten gegen seinen Verbün¬
deten vereinbar gewesen wäre, ob es nothwendig war, das Werkzeug seines
Ehrgeizes auch zum Opfer seiner Schwäche zu machen. Ziehen wir indessen
die Mittheilungen der Mithandelnden zu Rathe (aus die wir in einem fol¬
genden Artikel näher einzugehen Veranlassung haben werden), so scheint es
uns unzweifelhaft, daß die Treulosigkeit des Kaisers gegen Maximilian der
Scheu entsprungen ist, rechtzeitig und offen die Niederlage vor sich und der
Welt einzugestehn.

Napoleon war nach Ntederwerfnng der nordamerikanischen Sclaven¬
staaten in eine Lage gebracht, aus der er sich um jeden Preis befreien mußte.
Statt rasch und offen den Kaiser Maximilian über die Lage der Dinge auf¬
zuklären, zögerte er unentschlossen so lange, bis er gar nicht mehr die Wahl
zwischen einem ehrenvollen und schimpflichen Rückzug hatte. Seine lang¬
same Bedächtigkeit im Erwägen und Calculiren hatte ihn nicht vor der Ge¬
fahr geschützt, sich in ein unsinniges Abenteuer zu stürzen, vielmehr hatte
seine unruhige, ewig planende Einbildungskraft in einer unglücklichen Stunde
über den kühl und langsam berechnenden Verstand den Sieg davon getragen.
In der Gefahr, da nur ein rascher Entschluß seine Ehre retten konnte, ge«
manu wieder die etwas schwerfällige Bedächtigkeit seines Temperaments sehr
zur Unzeit die Oberhand und verwickelte seinen Schützling in die tragische
Katastrophe, welche der Welt nicht nur die Schwäche des kaiserlichen Frank¬
reichs offenbart, sondern auch das Vertrauen in die Person des Kaisers aufs
Tiefste erschüttert hat.

Auf eigenen Beobachtungen und dem sorgfältigen Studium der zahl-
reichen sehr verschieden gefärbten Berichte der den Begebenheiten näher stehen¬
den, zum Theil mithandelnden Zeitgenossen, auf deren Aufzählung wir in¬
dessen verzichten, beruht das umfassende Werk Taxtle Delord's: Ilistoire
Zu seoouä Lmxire, dessen erster Band die Geschichte der Präsidentschaft


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[0139] der Geschichte, als vielmehr des französischen Volkes, an dessen Urtheil die Besiegten wie die Sieger des zweiten Decembers appelliren. — Was die bisherigen kriegerischen Unternehmungen des Kaisers betrifft, so stimmt das Urtheil der politischen und militärischen Berichterstatter im Großen und Ganzen überein und dürfte aus späterem Quellenstudium wohl nur in Ein- zelheiten Berichtigungen und Ergänzungen erfahren. Ueber den politischen Werth der mexicanischen Expedition aber, die nach unserer Ansicht nicht den Wendepunkt in der Geschichte des Kaisers bezeichnet, sondern ein Versuch ist, durch ein verzweifeltes, auf die leichtfertigsten Berechnungen hin unternom¬ menes Abenteuer den Glanz des bereits im Verglühen gegriffenen kaiserlichen Sterns neu aufzufrischen, ist das Urtheil endgiltig gesprochen. Nur darüber könnten vielleicht die Meinungen schwanken, ob der unvermeidliche Rückzug Napoleons nicht mit einer Erfüllung der Ehrenpflichten gegen seinen Verbün¬ deten vereinbar gewesen wäre, ob es nothwendig war, das Werkzeug seines Ehrgeizes auch zum Opfer seiner Schwäche zu machen. Ziehen wir indessen die Mittheilungen der Mithandelnden zu Rathe (aus die wir in einem fol¬ genden Artikel näher einzugehen Veranlassung haben werden), so scheint es uns unzweifelhaft, daß die Treulosigkeit des Kaisers gegen Maximilian der Scheu entsprungen ist, rechtzeitig und offen die Niederlage vor sich und der Welt einzugestehn. Napoleon war nach Ntederwerfnng der nordamerikanischen Sclaven¬ staaten in eine Lage gebracht, aus der er sich um jeden Preis befreien mußte. Statt rasch und offen den Kaiser Maximilian über die Lage der Dinge auf¬ zuklären, zögerte er unentschlossen so lange, bis er gar nicht mehr die Wahl zwischen einem ehrenvollen und schimpflichen Rückzug hatte. Seine lang¬ same Bedächtigkeit im Erwägen und Calculiren hatte ihn nicht vor der Ge¬ fahr geschützt, sich in ein unsinniges Abenteuer zu stürzen, vielmehr hatte seine unruhige, ewig planende Einbildungskraft in einer unglücklichen Stunde über den kühl und langsam berechnenden Verstand den Sieg davon getragen. In der Gefahr, da nur ein rascher Entschluß seine Ehre retten konnte, ge« manu wieder die etwas schwerfällige Bedächtigkeit seines Temperaments sehr zur Unzeit die Oberhand und verwickelte seinen Schützling in die tragische Katastrophe, welche der Welt nicht nur die Schwäche des kaiserlichen Frank¬ reichs offenbart, sondern auch das Vertrauen in die Person des Kaisers aufs Tiefste erschüttert hat. Auf eigenen Beobachtungen und dem sorgfältigen Studium der zahl- reichen sehr verschieden gefärbten Berichte der den Begebenheiten näher stehen¬ den, zum Theil mithandelnden Zeitgenossen, auf deren Aufzählung wir in¬ dessen verzichten, beruht das umfassende Werk Taxtle Delord's: Ilistoire Zu seoouä Lmxire, dessen erster Band die Geschichte der Präsidentschaft 17*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/139>, abgerufen am 17.06.2024.