Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und des Kaiserthums bis zum Ausgange des Krimkriegs in klarer übersicht¬
licher und anziehender Darstellung behandelt. Der Verfasser, als gemäßigter,
aber entschiedener Republikaner, ist natürlich ein scharfer Gegner des Kaisers
und der Mös naxoIHomöimes; wie denn überhaupt der Kampf gegen das
Princip des Bonapartismus der zeitgenössischen Historiographie der Franzosen
(wir erinnern nur an Charras und an Lanfrey's classisch und mit einer den
deutschen Leser oft frappirenden Unbefangenheit geschriebenes großes Ge¬
schichtswerk) ihren eigenthümlichen Stempel aufdrückt, Thiers' Auffassung mag
in gewissen Kreisen noch immer für die allein berechtigte, für die wahrhaft
"nationale" gelten; der französischen Geschichtswissenschaft gilt sie als über¬
wundener Standpunkt. Die Literatur, nicht blos die Geschichtswissenschaft, ist
antibonapartistisch, gerade wie der Bonapartismus seinerseits, darin ganz dem
römischen Kaiserthum ähnlich, zu keiner Zeit seine Feindschaft gegen die der Regle-
mentirung unzugängliche freie Literatur verhehlthat. Hätte sich die Literatur
centralisiren und monopolisiren, hätte sie sich in das System des Alles ver¬
schlingenden Staatsorganismus einfügen lassen, so wäre sie willkommen ge¬
wesen; als Trägerin selbständiger Ideen war sie verhaßt und geächtet.
Denn der spärliche ideale Gehalt, der im Bonapartismus eine Stelle fand,
durfte nimmermehr den "Ideologen" von Fach überantwortet werden.
Geistige Oede neben der Jagd nach Besitz, neben roher Genußsucht, neben
cynischer Frivolität, neben einem geschmacklos sich spreizenden, mehr und mehr
der altfranzösischen Grazie sich entäußernden Prunk in der Gesellschaft und
in der Kunst, war, wenn nicht das Ziel, doch das Ergebniß des ersten Kaiser¬
thums. und ähnliche, wenn auch dem Charakter des Herrschers und den ver¬
änderten Zeitumständen gemäß minder ausgeprägte Erscheinungen bietet das
zweite Kaiserthum. Die Periode der Freiheit und des Parlamentarismus
gilt den Franzosen zugleich als Periode des geistigen Aufschwungs, das
Kaiserthum mit seiner ausschließlichen Richtung auf die Pflege materiellen
Wohlseins als die Aera der geistigen Erschlaffung, wobei man allerdings
übersieht, daß die geistige Erschlaffung und sittliche Versunkenheit nicht blos
Folgen des bonapartistischen Systems sind, sondern mit zu der Begründung
desselben beigetragen haben, daß eine nothwendige Wechselwirkung zwischen
Bonapartismus und Materialismus besteht. So viel ist aber unbestreitbar,
daß jeder geistige Aufschwung sich gegen den Bonapartismus wendet, und
daß alle selbständigen Kräfte, die, gleichviel auf welchem Gebiete des Wissens
oder Lebens, sich über die Routine erheben, Gegner des napoleonischen
Systems sind. Und dies gilt vor Allem von der Geschichte, die, nachdem
sie sich von dem Einfluß des verderblichen Thiers'schen Chauvinismus befreit
hat, in ihrem Widerwillen gegen das System sogar der Gefahr ausgesetzt


und des Kaiserthums bis zum Ausgange des Krimkriegs in klarer übersicht¬
licher und anziehender Darstellung behandelt. Der Verfasser, als gemäßigter,
aber entschiedener Republikaner, ist natürlich ein scharfer Gegner des Kaisers
und der Mös naxoIHomöimes; wie denn überhaupt der Kampf gegen das
Princip des Bonapartismus der zeitgenössischen Historiographie der Franzosen
(wir erinnern nur an Charras und an Lanfrey's classisch und mit einer den
deutschen Leser oft frappirenden Unbefangenheit geschriebenes großes Ge¬
schichtswerk) ihren eigenthümlichen Stempel aufdrückt, Thiers' Auffassung mag
in gewissen Kreisen noch immer für die allein berechtigte, für die wahrhaft
„nationale" gelten; der französischen Geschichtswissenschaft gilt sie als über¬
wundener Standpunkt. Die Literatur, nicht blos die Geschichtswissenschaft, ist
antibonapartistisch, gerade wie der Bonapartismus seinerseits, darin ganz dem
römischen Kaiserthum ähnlich, zu keiner Zeit seine Feindschaft gegen die der Regle-
mentirung unzugängliche freie Literatur verhehlthat. Hätte sich die Literatur
centralisiren und monopolisiren, hätte sie sich in das System des Alles ver¬
schlingenden Staatsorganismus einfügen lassen, so wäre sie willkommen ge¬
wesen; als Trägerin selbständiger Ideen war sie verhaßt und geächtet.
Denn der spärliche ideale Gehalt, der im Bonapartismus eine Stelle fand,
durfte nimmermehr den „Ideologen" von Fach überantwortet werden.
Geistige Oede neben der Jagd nach Besitz, neben roher Genußsucht, neben
cynischer Frivolität, neben einem geschmacklos sich spreizenden, mehr und mehr
der altfranzösischen Grazie sich entäußernden Prunk in der Gesellschaft und
in der Kunst, war, wenn nicht das Ziel, doch das Ergebniß des ersten Kaiser¬
thums. und ähnliche, wenn auch dem Charakter des Herrschers und den ver¬
änderten Zeitumständen gemäß minder ausgeprägte Erscheinungen bietet das
zweite Kaiserthum. Die Periode der Freiheit und des Parlamentarismus
gilt den Franzosen zugleich als Periode des geistigen Aufschwungs, das
Kaiserthum mit seiner ausschließlichen Richtung auf die Pflege materiellen
Wohlseins als die Aera der geistigen Erschlaffung, wobei man allerdings
übersieht, daß die geistige Erschlaffung und sittliche Versunkenheit nicht blos
Folgen des bonapartistischen Systems sind, sondern mit zu der Begründung
desselben beigetragen haben, daß eine nothwendige Wechselwirkung zwischen
Bonapartismus und Materialismus besteht. So viel ist aber unbestreitbar,
daß jeder geistige Aufschwung sich gegen den Bonapartismus wendet, und
daß alle selbständigen Kräfte, die, gleichviel auf welchem Gebiete des Wissens
oder Lebens, sich über die Routine erheben, Gegner des napoleonischen
Systems sind. Und dies gilt vor Allem von der Geschichte, die, nachdem
sie sich von dem Einfluß des verderblichen Thiers'schen Chauvinismus befreit
hat, in ihrem Widerwillen gegen das System sogar der Gefahr ausgesetzt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0140" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124290"/>
            <p xml:id="ID_375" prev="#ID_374" next="#ID_376"> und des Kaiserthums bis zum Ausgange des Krimkriegs in klarer übersicht¬<lb/>
licher und anziehender Darstellung behandelt. Der Verfasser, als gemäßigter,<lb/>
aber entschiedener Republikaner, ist natürlich ein scharfer Gegner des Kaisers<lb/>
und der Mös naxoIHomöimes; wie denn überhaupt der Kampf gegen das<lb/>
Princip des Bonapartismus der zeitgenössischen Historiographie der Franzosen<lb/>
(wir erinnern nur an Charras und an Lanfrey's classisch und mit einer den<lb/>
deutschen Leser oft frappirenden Unbefangenheit geschriebenes großes Ge¬<lb/>
schichtswerk) ihren eigenthümlichen Stempel aufdrückt, Thiers' Auffassung mag<lb/>
in gewissen Kreisen noch immer für die allein berechtigte, für die wahrhaft<lb/>
&#x201E;nationale" gelten; der französischen Geschichtswissenschaft gilt sie als über¬<lb/>
wundener Standpunkt. Die Literatur, nicht blos die Geschichtswissenschaft, ist<lb/>
antibonapartistisch, gerade wie der Bonapartismus seinerseits, darin ganz dem<lb/>
römischen Kaiserthum ähnlich, zu keiner Zeit seine Feindschaft gegen die der Regle-<lb/>
mentirung unzugängliche freie Literatur verhehlthat. Hätte sich die Literatur<lb/>
centralisiren und monopolisiren, hätte sie sich in das System des Alles ver¬<lb/>
schlingenden Staatsorganismus einfügen lassen, so wäre sie willkommen ge¬<lb/>
wesen; als Trägerin selbständiger Ideen war sie verhaßt und geächtet.<lb/>
Denn der spärliche ideale Gehalt, der im Bonapartismus eine Stelle fand,<lb/>
durfte nimmermehr den &#x201E;Ideologen" von Fach überantwortet werden.<lb/>
Geistige Oede neben der Jagd nach Besitz, neben roher Genußsucht, neben<lb/>
cynischer Frivolität, neben einem geschmacklos sich spreizenden, mehr und mehr<lb/>
der altfranzösischen Grazie sich entäußernden Prunk in der Gesellschaft und<lb/>
in der Kunst, war, wenn nicht das Ziel, doch das Ergebniß des ersten Kaiser¬<lb/>
thums. und ähnliche, wenn auch dem Charakter des Herrschers und den ver¬<lb/>
änderten Zeitumständen gemäß minder ausgeprägte Erscheinungen bietet das<lb/>
zweite Kaiserthum. Die Periode der Freiheit und des Parlamentarismus<lb/>
gilt den Franzosen zugleich als Periode des geistigen Aufschwungs, das<lb/>
Kaiserthum mit seiner ausschließlichen Richtung auf die Pflege materiellen<lb/>
Wohlseins als die Aera der geistigen Erschlaffung, wobei man allerdings<lb/>
übersieht, daß die geistige Erschlaffung und sittliche Versunkenheit nicht blos<lb/>
Folgen des bonapartistischen Systems sind, sondern mit zu der Begründung<lb/>
desselben beigetragen haben, daß eine nothwendige Wechselwirkung zwischen<lb/>
Bonapartismus und Materialismus besteht. So viel ist aber unbestreitbar,<lb/>
daß jeder geistige Aufschwung sich gegen den Bonapartismus wendet, und<lb/>
daß alle selbständigen Kräfte, die, gleichviel auf welchem Gebiete des Wissens<lb/>
oder Lebens, sich über die Routine erheben, Gegner des napoleonischen<lb/>
Systems sind. Und dies gilt vor Allem von der Geschichte, die, nachdem<lb/>
sie sich von dem Einfluß des verderblichen Thiers'schen Chauvinismus befreit<lb/>
hat, in ihrem Widerwillen gegen das System sogar der Gefahr ausgesetzt</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0140] und des Kaiserthums bis zum Ausgange des Krimkriegs in klarer übersicht¬ licher und anziehender Darstellung behandelt. Der Verfasser, als gemäßigter, aber entschiedener Republikaner, ist natürlich ein scharfer Gegner des Kaisers und der Mös naxoIHomöimes; wie denn überhaupt der Kampf gegen das Princip des Bonapartismus der zeitgenössischen Historiographie der Franzosen (wir erinnern nur an Charras und an Lanfrey's classisch und mit einer den deutschen Leser oft frappirenden Unbefangenheit geschriebenes großes Ge¬ schichtswerk) ihren eigenthümlichen Stempel aufdrückt, Thiers' Auffassung mag in gewissen Kreisen noch immer für die allein berechtigte, für die wahrhaft „nationale" gelten; der französischen Geschichtswissenschaft gilt sie als über¬ wundener Standpunkt. Die Literatur, nicht blos die Geschichtswissenschaft, ist antibonapartistisch, gerade wie der Bonapartismus seinerseits, darin ganz dem römischen Kaiserthum ähnlich, zu keiner Zeit seine Feindschaft gegen die der Regle- mentirung unzugängliche freie Literatur verhehlthat. Hätte sich die Literatur centralisiren und monopolisiren, hätte sie sich in das System des Alles ver¬ schlingenden Staatsorganismus einfügen lassen, so wäre sie willkommen ge¬ wesen; als Trägerin selbständiger Ideen war sie verhaßt und geächtet. Denn der spärliche ideale Gehalt, der im Bonapartismus eine Stelle fand, durfte nimmermehr den „Ideologen" von Fach überantwortet werden. Geistige Oede neben der Jagd nach Besitz, neben roher Genußsucht, neben cynischer Frivolität, neben einem geschmacklos sich spreizenden, mehr und mehr der altfranzösischen Grazie sich entäußernden Prunk in der Gesellschaft und in der Kunst, war, wenn nicht das Ziel, doch das Ergebniß des ersten Kaiser¬ thums. und ähnliche, wenn auch dem Charakter des Herrschers und den ver¬ änderten Zeitumständen gemäß minder ausgeprägte Erscheinungen bietet das zweite Kaiserthum. Die Periode der Freiheit und des Parlamentarismus gilt den Franzosen zugleich als Periode des geistigen Aufschwungs, das Kaiserthum mit seiner ausschließlichen Richtung auf die Pflege materiellen Wohlseins als die Aera der geistigen Erschlaffung, wobei man allerdings übersieht, daß die geistige Erschlaffung und sittliche Versunkenheit nicht blos Folgen des bonapartistischen Systems sind, sondern mit zu der Begründung desselben beigetragen haben, daß eine nothwendige Wechselwirkung zwischen Bonapartismus und Materialismus besteht. So viel ist aber unbestreitbar, daß jeder geistige Aufschwung sich gegen den Bonapartismus wendet, und daß alle selbständigen Kräfte, die, gleichviel auf welchem Gebiete des Wissens oder Lebens, sich über die Routine erheben, Gegner des napoleonischen Systems sind. Und dies gilt vor Allem von der Geschichte, die, nachdem sie sich von dem Einfluß des verderblichen Thiers'schen Chauvinismus befreit hat, in ihrem Widerwillen gegen das System sogar der Gefahr ausgesetzt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/140
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/140>, abgerufen am 17.06.2024.