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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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stellte, entrüstet; aber statt sich zu entschlossenem Handeln gegen ihn zu vereinigen,
intriguirten sie gegen einander und erklärten zur Beruhigung ihres Gewissens
den Gegner für einen ungefährlichen Charlatan. Und als die entscheidenden
Kämpfe herannahten, waren sie wie gelähmt durch einen Zauber, dessen
Bande sie nicht zu zerreißen vermochten.

Diese Verblendung der Parteien, diese allgemeine Erschlaffung und Läh¬
mung erklärt sich keineswegs allein aus der Unfähigkeit de> zum Handeln
berufenen Personen, sondern zugleich auch aus der fehlerhaften Situation, in
die sie sich durch die Revolution versetzt sahen. Der größere Theil der Ver¬
schuldung liegt vor und in der Revolution; was nachher Thörichtes geschah,
ist ebenso wie die zahlreichen Unterlassungssünden eine Folge der Februar¬
ereignisse. Dies erkennt der republikanische Geschichtsschreiber, in dessen Augen
die innere Berechtigung der Februarrevolution über jeden Zweifel erhaben
ist, natürlich nicht an, weshalb denn bei ihm die Fehler der Einzelnen nach
der Revolution oft in einem allzu grellen Lichte erscheinen. Gewiß hat der
Verfasser Recht, wenn er meint, daß bei rechtzeitiger Vereinigung aller Par¬
teien zu energischem Widerstande gegen den Prätendenten die Republik hätte
gerettet werden können. Aber eben diese Vereinigung war unmöglich. Wie
viele unter den Gegnern des Präsidenten waren denn der Republik auf¬
richtig ergeben? In der Bevölkerung war die republikanische Gesinnung
doch nur schwach vertreten. Und was vielleicht noch bedenklicher war, unter
den Republikanern bestand eine tiefe Kluft zwischen den Rothen und den
Gemäßigten. Die Rothen, das eigentlich treibende Element in den Februar¬
tagen, die mit einer gewissen logischen Consequenz behaupten durften, daß
nur die rücksichtslose Entwickelung ihrer Grundsätze die Republik retten könne,
waren in dem Gemetzel der Junitage ihren gemäßigten Gegnern erlegen.
Aber grade der Junisieg, der scheinbar die Gemäßigten zu Herren der Lage
gemacht hatte, sollte der Republik den Todesstoß versetzen. Der Sieger,
Cavaignac, war zwischen zwei Feuer gerathen, zwischen den glühenden Haß
der Socialisten und die Abneigung der Conservativen, die durch die von ihm in
der Bändigung der Emeute bewährte Energie nicht vermindert wurde, da
sie nicht in einem maßvollen republikanischen Regiment, sondern nur in der
schroffsten Reaction Sicherheit vor den Gefahren der Zukunft erblickten.

Und im Grunde war diese Stimmung auch in den Departements vor¬
herrschend, wie der überwiegend conservative Ausfall der Wahlen zu der am
28. Mai 1849 eröffneten legislativen Versammlung bewies. Gegen jeden
Versuch aber, diese Wahlen für eine Manifestation zu Gunsten der alten Dy¬
nastien auszugeben, hatte die Nation durch die Wahl des Prinzen zum Prä¬
sidenten bereits im Voraus protestirt. Die Berryer und Montalembert, die
Thiers und Dupin wurden nicht als Legitimisten und Orleantsten, sondern


stellte, entrüstet; aber statt sich zu entschlossenem Handeln gegen ihn zu vereinigen,
intriguirten sie gegen einander und erklärten zur Beruhigung ihres Gewissens
den Gegner für einen ungefährlichen Charlatan. Und als die entscheidenden
Kämpfe herannahten, waren sie wie gelähmt durch einen Zauber, dessen
Bande sie nicht zu zerreißen vermochten.

Diese Verblendung der Parteien, diese allgemeine Erschlaffung und Läh¬
mung erklärt sich keineswegs allein aus der Unfähigkeit de> zum Handeln
berufenen Personen, sondern zugleich auch aus der fehlerhaften Situation, in
die sie sich durch die Revolution versetzt sahen. Der größere Theil der Ver¬
schuldung liegt vor und in der Revolution; was nachher Thörichtes geschah,
ist ebenso wie die zahlreichen Unterlassungssünden eine Folge der Februar¬
ereignisse. Dies erkennt der republikanische Geschichtsschreiber, in dessen Augen
die innere Berechtigung der Februarrevolution über jeden Zweifel erhaben
ist, natürlich nicht an, weshalb denn bei ihm die Fehler der Einzelnen nach
der Revolution oft in einem allzu grellen Lichte erscheinen. Gewiß hat der
Verfasser Recht, wenn er meint, daß bei rechtzeitiger Vereinigung aller Par¬
teien zu energischem Widerstande gegen den Prätendenten die Republik hätte
gerettet werden können. Aber eben diese Vereinigung war unmöglich. Wie
viele unter den Gegnern des Präsidenten waren denn der Republik auf¬
richtig ergeben? In der Bevölkerung war die republikanische Gesinnung
doch nur schwach vertreten. Und was vielleicht noch bedenklicher war, unter
den Republikanern bestand eine tiefe Kluft zwischen den Rothen und den
Gemäßigten. Die Rothen, das eigentlich treibende Element in den Februar¬
tagen, die mit einer gewissen logischen Consequenz behaupten durften, daß
nur die rücksichtslose Entwickelung ihrer Grundsätze die Republik retten könne,
waren in dem Gemetzel der Junitage ihren gemäßigten Gegnern erlegen.
Aber grade der Junisieg, der scheinbar die Gemäßigten zu Herren der Lage
gemacht hatte, sollte der Republik den Todesstoß versetzen. Der Sieger,
Cavaignac, war zwischen zwei Feuer gerathen, zwischen den glühenden Haß
der Socialisten und die Abneigung der Conservativen, die durch die von ihm in
der Bändigung der Emeute bewährte Energie nicht vermindert wurde, da
sie nicht in einem maßvollen republikanischen Regiment, sondern nur in der
schroffsten Reaction Sicherheit vor den Gefahren der Zukunft erblickten.

Und im Grunde war diese Stimmung auch in den Departements vor¬
herrschend, wie der überwiegend conservative Ausfall der Wahlen zu der am
28. Mai 1849 eröffneten legislativen Versammlung bewies. Gegen jeden
Versuch aber, diese Wahlen für eine Manifestation zu Gunsten der alten Dy¬
nastien auszugeben, hatte die Nation durch die Wahl des Prinzen zum Prä¬
sidenten bereits im Voraus protestirt. Die Berryer und Montalembert, die
Thiers und Dupin wurden nicht als Legitimisten und Orleantsten, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/144>, abgerufen am 17.06.2024.