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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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"Und doch ist es das nicht; aus der Asche zucken erst nur einzelne Funken
des unerloschenen Antheils auf, die sich langsam und stufenweise zwar nicht
mehr zur himmelan lodernden Opferflamme von ehemals, doch zum stetigen
Herdfeuer entzünden, das den fröstelnden Lebensabend der beiden Männer
wohlthätig erwärmt. Es ist Entzweiung und Versöhnung, Verwickelung und
Lösung, und wenn auch nicht Läuterung, doch Beschwichtigung in diesem
Briefwechsel; nach den lieblichen, doch mitunter auch leichten oder manierirten
Melodien des Anfangs, den zerreißenden Dissonanzen der Mitte, denen eine
lange Pause folgt, klingt er am Ende doch ebenso sanft als ernst harmonisch
aus und läßt in dem befriedigten Gemüthe einen tiefen, unauslöschlichen
Eindruck zurück."

Seit der Abreise Voltaire's aus Potsdam im März 1733 haben sich die
Beiden nicht wieder gesehen. Im Jahre 1755 beginnt Voltaire seine An-
siedlung am Genfer See, und damit hebt die letzte Periode seines Lebens an;
es kommen die Jahre, wo er sich am liebsten den Patriarchen von Ferney
nennen hörte. "Voltaire's Leben war bisher ein sehr bewegtes, ein rasch
fließender Strom gewesen. Von seiner Ansiedlung am Genfer See an wird
es ein Stillleben, aus einem Strom gleichsam selbst zum ruhigen See. Doch
gilt dies nur von der Außenseite. Ein Jahr wie das andere geht ihm in
friedlicher Muße, in recht ungeselliger Einsamkeit, in reger Geistesarbeit hin.
Eben diese Geistesarbeit ist es aber, die in dieses äußerlich so stille Leben die
lebhafteste innere Bewegung bringt. Voltaire ist niemals so thätig, so pro¬
duktiv gewesen, wie in dieser letzten Lebensperiode vom sechzigsten bis zum
vierundachtzigsten Jahre. Gleicherweise die Vielseitigkeit wie die Rastlosigkeit
seines Schaffens in diesen Jahren ist geradezu ohne Beispiel. Die Höhe seines
Ruhmes hatte er schon vorher erstiegen, berühmter als er schon war konnte
er nicht mehr werden, aber seine höchste, seine eigentlich welthistorische Be¬
deutung beruht vorzugsweise auf dem, was er während seines Aufenthalts
am Genfer See und in Ferney geleistet hat. Um im Greisenalter noch das
Bedeutendste hervorzubringen und dabei auch in der Form so beweglich, so
anmuthig. so frisch zu bleiben wie in den besten Jugendjahren, dazu gehörte
freilich eine so außerordentliche körperliche wie geistige Organisation, wie sie
Voltaire eigen war; doch war er auch durch die äußeren Umstände in dieser
letzten Zeit besonders begünstigt. "Jetzt erst zogen ihn weder höfische noch
gesellige Pflichten mehr von den Studien ab; keine Rücksichten schlossen ihm
den Mund und drückten auf seine Feder; als freier Mann auf eigenem Grund
und Boden, nur noch mit einem Fuß in dem despotisch-pfäffischen Frankreich,
und seiner gefährlichen Hauptstadt fern, sah er sich jetzt erst im Stande und
aufgelegt, ohne Scheu und Schonung seine abweichende Meinung herauszu-


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„Und doch ist es das nicht; aus der Asche zucken erst nur einzelne Funken
des unerloschenen Antheils auf, die sich langsam und stufenweise zwar nicht
mehr zur himmelan lodernden Opferflamme von ehemals, doch zum stetigen
Herdfeuer entzünden, das den fröstelnden Lebensabend der beiden Männer
wohlthätig erwärmt. Es ist Entzweiung und Versöhnung, Verwickelung und
Lösung, und wenn auch nicht Läuterung, doch Beschwichtigung in diesem
Briefwechsel; nach den lieblichen, doch mitunter auch leichten oder manierirten
Melodien des Anfangs, den zerreißenden Dissonanzen der Mitte, denen eine
lange Pause folgt, klingt er am Ende doch ebenso sanft als ernst harmonisch
aus und läßt in dem befriedigten Gemüthe einen tiefen, unauslöschlichen
Eindruck zurück."

Seit der Abreise Voltaire's aus Potsdam im März 1733 haben sich die
Beiden nicht wieder gesehen. Im Jahre 1755 beginnt Voltaire seine An-
siedlung am Genfer See, und damit hebt die letzte Periode seines Lebens an;
es kommen die Jahre, wo er sich am liebsten den Patriarchen von Ferney
nennen hörte. „Voltaire's Leben war bisher ein sehr bewegtes, ein rasch
fließender Strom gewesen. Von seiner Ansiedlung am Genfer See an wird
es ein Stillleben, aus einem Strom gleichsam selbst zum ruhigen See. Doch
gilt dies nur von der Außenseite. Ein Jahr wie das andere geht ihm in
friedlicher Muße, in recht ungeselliger Einsamkeit, in reger Geistesarbeit hin.
Eben diese Geistesarbeit ist es aber, die in dieses äußerlich so stille Leben die
lebhafteste innere Bewegung bringt. Voltaire ist niemals so thätig, so pro¬
duktiv gewesen, wie in dieser letzten Lebensperiode vom sechzigsten bis zum
vierundachtzigsten Jahre. Gleicherweise die Vielseitigkeit wie die Rastlosigkeit
seines Schaffens in diesen Jahren ist geradezu ohne Beispiel. Die Höhe seines
Ruhmes hatte er schon vorher erstiegen, berühmter als er schon war konnte
er nicht mehr werden, aber seine höchste, seine eigentlich welthistorische Be¬
deutung beruht vorzugsweise auf dem, was er während seines Aufenthalts
am Genfer See und in Ferney geleistet hat. Um im Greisenalter noch das
Bedeutendste hervorzubringen und dabei auch in der Form so beweglich, so
anmuthig. so frisch zu bleiben wie in den besten Jugendjahren, dazu gehörte
freilich eine so außerordentliche körperliche wie geistige Organisation, wie sie
Voltaire eigen war; doch war er auch durch die äußeren Umstände in dieser
letzten Zeit besonders begünstigt. „Jetzt erst zogen ihn weder höfische noch
gesellige Pflichten mehr von den Studien ab; keine Rücksichten schlossen ihm
den Mund und drückten auf seine Feder; als freier Mann auf eigenem Grund
und Boden, nur noch mit einem Fuß in dem despotisch-pfäffischen Frankreich,
und seiner gefährlichen Hauptstadt fern, sah er sich jetzt erst im Stande und
aufgelegt, ohne Scheu und Schonung seine abweichende Meinung herauszu-


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[0163] „Und doch ist es das nicht; aus der Asche zucken erst nur einzelne Funken des unerloschenen Antheils auf, die sich langsam und stufenweise zwar nicht mehr zur himmelan lodernden Opferflamme von ehemals, doch zum stetigen Herdfeuer entzünden, das den fröstelnden Lebensabend der beiden Männer wohlthätig erwärmt. Es ist Entzweiung und Versöhnung, Verwickelung und Lösung, und wenn auch nicht Läuterung, doch Beschwichtigung in diesem Briefwechsel; nach den lieblichen, doch mitunter auch leichten oder manierirten Melodien des Anfangs, den zerreißenden Dissonanzen der Mitte, denen eine lange Pause folgt, klingt er am Ende doch ebenso sanft als ernst harmonisch aus und läßt in dem befriedigten Gemüthe einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck zurück." Seit der Abreise Voltaire's aus Potsdam im März 1733 haben sich die Beiden nicht wieder gesehen. Im Jahre 1755 beginnt Voltaire seine An- siedlung am Genfer See, und damit hebt die letzte Periode seines Lebens an; es kommen die Jahre, wo er sich am liebsten den Patriarchen von Ferney nennen hörte. „Voltaire's Leben war bisher ein sehr bewegtes, ein rasch fließender Strom gewesen. Von seiner Ansiedlung am Genfer See an wird es ein Stillleben, aus einem Strom gleichsam selbst zum ruhigen See. Doch gilt dies nur von der Außenseite. Ein Jahr wie das andere geht ihm in friedlicher Muße, in recht ungeselliger Einsamkeit, in reger Geistesarbeit hin. Eben diese Geistesarbeit ist es aber, die in dieses äußerlich so stille Leben die lebhafteste innere Bewegung bringt. Voltaire ist niemals so thätig, so pro¬ duktiv gewesen, wie in dieser letzten Lebensperiode vom sechzigsten bis zum vierundachtzigsten Jahre. Gleicherweise die Vielseitigkeit wie die Rastlosigkeit seines Schaffens in diesen Jahren ist geradezu ohne Beispiel. Die Höhe seines Ruhmes hatte er schon vorher erstiegen, berühmter als er schon war konnte er nicht mehr werden, aber seine höchste, seine eigentlich welthistorische Be¬ deutung beruht vorzugsweise auf dem, was er während seines Aufenthalts am Genfer See und in Ferney geleistet hat. Um im Greisenalter noch das Bedeutendste hervorzubringen und dabei auch in der Form so beweglich, so anmuthig. so frisch zu bleiben wie in den besten Jugendjahren, dazu gehörte freilich eine so außerordentliche körperliche wie geistige Organisation, wie sie Voltaire eigen war; doch war er auch durch die äußeren Umstände in dieser letzten Zeit besonders begünstigt. „Jetzt erst zogen ihn weder höfische noch gesellige Pflichten mehr von den Studien ab; keine Rücksichten schlossen ihm den Mund und drückten auf seine Feder; als freier Mann auf eigenem Grund und Boden, nur noch mit einem Fuß in dem despotisch-pfäffischen Frankreich, und seiner gefährlichen Hauptstadt fern, sah er sich jetzt erst im Stande und aufgelegt, ohne Scheu und Schonung seine abweichende Meinung herauszu- 20*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/163>, abgerufen am 17.06.2024.